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Schnittstelle Sozialhilfe/Kindesschutz

Veröffentlicht:
16.12.2019
Kanton:
Nidwalden
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Schnyder

Zur Sachlage:

Minderjähriges Kind (16), mit zivil- und sozialhilferechtlichem UWS im Kanton NW. Es besteht eine Kindesschutzmassnahme nach Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB.

Seit 2016 ist die Jugendliche freiwillig platziert in verschiedenen Institutionen, mittlerweile im Kanton LU in einer nicht IVSE-anerkannten Einrichtung. Sorgeberechtigt sind beide Elternteile. Der Vater bezieht eine IV-Rente. Die Mutter bezog zuletzt von 08/18 - 04/19 im Kanton NW WSH. Die Leistungen wurden mangels Nachweis der Bedürftigkeit eingestellt. Aktuelle Existenzsicherung unklar.

Bisher hat die für die WSH zuständige Gemeinde X. die Eigenleistung und die Nebenkosten finanziert (§13 BetrV NW) und als Rechnungsempfängerin die Rechnungen direkt an die Einrichtung beglichen. Im Gegenzug wurden im Rahmen der Subrogation die IV-Kinderrente und die EL für das Kind an die Gemeinde X. ausbezahlt.

Das fremplatzierte Kind absolviert seit August 2019 ein Praktikum. Mit dem Praktikumslohn, der IV-Kinderrente und den EL wäre sie in der Lage, sowohl den Elternbeitrag von monatlich CHF 700.00 (gemäss Anhang 761.21 zur Betreuungsverordnung NW) wie auch die Nebenkosten aus der Platzierung von monatlich CHF 554.00 selber zu finanzieren. Ein Anspruch auf WSH besteht somit nicht mehr.

Nach unserer Einschätzung wäre es aus sozialhilferechtlicher Sicht nun angezeigt, die Drittauszahlung der IV-Kinderrente und der EL an die Gemeinde X. zurückzuziehen. In diesem Fall würden diese subsidiären Leistungen wieder an die Kindsmutter ausbezahlt. Es ist mit einem gewissen Risiko der "Zweckentfremdung" der subsidiären Leistungen zu rechnen, da die Kindsmutter bereits zu Beginn der Platzierung IV&EL bereits erhalten hat, diese jedoch nicht für den Unterhalt des fremdplatzierten Kindes (sondern für den eigenen Unterhalt) verwendet hat. Würde die bisheringe Handhabung "zurückgestellt", müsste wohl gemäss §13, Abs. 3 nach erfolgloser zweimaliger Mahnung wiederum die Gemeinde X. bevorschussend einsteigen.

Unsere Fragen in diesem Zusammenhang:

- Kann eine Drittauszahlung von IV-Kinderrente und EL zu Gunsten des minderjährigen Kindes bei der auszahlenden Stelle verlangt werden?

- Besteht eine Rechtsgrundlage, auf der abgestützt werden könnte, bei Fortsetzung der bisherigen Handhabung - Auszahlung der subs. Leistungen an Gme und gleichzeitig Begleichung der Eigenleistung?

- Zum Abschluss noch eine NICHT FALLBEZOGENE Frage, die sich immer wieder bei (freiwillig) fremdplatzierten Kindern stellt, bei denen eine Massnahme nach Art. 308 Abs. 1 und 2 besteht. Es geht um die administrative Abwicklung bezüglich Krankheitskosten (von der Anmeldung für PV über das Einreichen von Rechnungen für medizinische Behandlungen bei der KK).  Unbestritten ist, dass die KK-Prämien durch den zivilrechtlichen Wohnsitz zu tragen sind, wobei dies jedoch unseres Erachtens nur auf die Zahlungspflicht, nicht aber auf die administrative Verwaltung einen Einfluss hat.

Wir gehen davon aus, dass die Abwicklung der Gesundheitskosten grundsätzlich zu den Erziehungskompetenzen der Eltern gehört. In der Praxis zeigt sich jedoch immer wieder, dass die Eltern nicht in der Lage sind - aus welchen Gründen auch immer - sich um die Administration bezüglich der Gesundheitskosten der Kinder zu kümmern. Auch reagieren sie nicht oder nur mit grosser, zeitlicher Verzögerung auf Unterstützungsangebote im Rahmen der persönlichen Hilfe nach § 4 Abs. 4 SHG.

Welches Vorgehen ist aus rechtlichen Überlegungen korrekt, wenn:

- ein Elternteil WSH bezieht? Kann von einer Gme, die z. B. nur die Mutter finanziell unterstützt, verlangt werden, dass die administrative Verwaltung für das nicht von ihnen unterstützte Kind vorgenommen wird?

- kein Elternteil WSH bezieht (oder nicht bekannt ist, wie der Lebensunterhalt bestritten wird)? Wäre es legitim, eine Erweiterung der Aufgaben der Beiständin/des Beistandes in Betracht zu ziehen?

 

Mit bestem Dank im Voraus für Ihre Stellungnahme.

Annamaria Dell'Amore

Frage beantwortet am

Anja Loosli Brendebach

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Dell'Amore, Sehr geehrte Frau Herdener

Ich bedanke mich für Ihre Fragen und beantworte diese gerne wie folgt:

1. Kann eine Drittauszahlung von IV-Kinderrente und EL zu Gunsten des minderjährigen Kindes bei der auszahlenden Stelle verlangt werden?

Nach Art. 20 Abs. 1 des ATSG (Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts) kann die Drittauszahlung von Sozialversicherungsleistungen an Personen oder Behörden verlangt werden, die der berechtigten Person gegenüber gesetzlich oder sittlich unterstützunspflichtig sind und (lit. a) die berechtigte Person die Geldleistungen für den geeigeneten Unterhalt für sich oder für Personen, für die sie zu sorgen hat, nicht einsetzt und die berechtigte Person auf Sozialhilfe angewiesen ist (lit. b).

Da nicht das Kind selbst sondern die IV-rentenberechtigte Person (hier der Vater) Anspruch auf die IV-Kinderrente hat (siehe z.B. Informationsschreiben Invalidenrente der IV auf www.ahv-iv.ch) und das minderjährige Kind gegenüber den Eltern nicht unterstützungspflichtig ist, kann das minderjährige Kind - und auch nicht der Beistand - die Auszahlung an sich gestützt auf Art. 20 ATSG nicht verlangen.

b) Für die Auszahlung der IV-Kinderrente ist Art. 71ter AHVV (AHV-Verordnung) massgebend. Die Kinderrente geht nur dann nicht an den Rentenberechtigten, wenn die Eltern nicht mehr zusammenwohnen und das Kind beim nicht rentenberechtigten Elternteil wohnt und dieser die Auszahlung an sich verlangt. Abweichende vormundschaftliche oder zivilrechtliche Anordnungen bleiben vorbehalten.

Vorliegend wohnt das Kind bei keinem Elternteil sondern ist fremdplatziert, wenn ich den Sachverhalt richtig verstehe. Die Drittauszahlung kann deshalb nicht an den Beistand, das Kind selbst oder sonst eine dritte Behörde verlangt werden. Es lässt sich aber beim Zivilgericht die Auszahlung an das Kind oder z.B. den Beistand oder eine Drittbehörde gestützt auf Art. 276ff (insbesondere Art. 285a) des Zivilgesetzuches (ZGB) fordern. Allerdings stellt sich hier das Problem des Umfangs der Beistandschaft. Der Beistand muss dann für die Geltendmachung des Unterhalts von der KESB ermächtigt sein. Zudem wäre Klagepartei nicht die Mutter sondern der Vater, der Anspruch auf die Kinderrente hat.

Die beiden weiteren Fragen beantworte ich gerne in einem separaten Schreiben, damit die Antwort nicht zu lang wird.

Freundliche Grüsse

Anja Loosli Brendebach

Frage beantwortet am

Anja Loosli Brendebach

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Dell'Amore, Sehr geehrte Frau Herdener

Gerne beantworte ich weiter Ihre folgende Frage:

Besteht eine Rechtsgrundlage, auf der abgestützt werden könnte, bei Fortsetzung der bisherigen Handhabung - Auszahlung der subs. Leistungen an Gme und gleichzeitig Begleichung der Eigenleistung?

Vorausschickend möchte ich festhalten, dass ich nicht ganz nachvollziehen kann, weshalb die IV-Kinderrente und die Ergänzungsleistungen für das Kind an die Mutter ausbezahlt werden für den Fall, dass das Kind nicht bedürftig ist. Anspruch auf die Rente und die Ergänzungsleistungen hat - wie in meiner ersten Anwort ausgeführt - der Vater als Rentenberechtigter. Die Auszahlung an die Mutter wäre nach Art. 71ter AHVV aber nur möglich, wenn das Kind mit der Mutter zusammenwohnt und das tut es ja nicht. Aus diesem Grund dürfte die Rente meiner Meinung nach nach Ablösung von der Sozialhilfe nicht an die Kindsmutter sondern wieder an den Kindsvater bezahlt werden und müsste, wie oben beschrieben, vorgegangen werden, damit die Rente an das Kind bzw. den Beistand ausbezahlt wird. Allenfalls ist ja der Vater freiwillig bereit, die IV-Kinderrente und die Ergänzungsleistungen der Gemeinde zu bezahlen. Falls die IV-Rente und die Ergänzungsleistungen im Ablösefall tatsächlich an die Mutter bezahlt würden, gilt es meiner Ansicht nach von der IV zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Auszahlung an die Mutter tatsächlich erfüllt sind (ich bin der Meinung, dass sie nicht erfüllt sind).

Nun aber zu Ihrer eigentlichen Frage: In Abs. 1 von Art. 14 des Sozialhilfegesetzes des Kantons Nidwalden (SHG NW) ist festgehalten, dass Anspruch auf persönliche Hilfe hat, wer sich in persönlichen Schwierigkeiten befindet. Der Kanton nimmt nach Art. 15 Ziff. 1 SHG NW diese Beratung wahr. Auf wirtschaftliche Hilfe hat dagegen nach Art. 17 SHG NW Anspruch, wer nicht über die nötigen Mittel verfügt, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Dieser Anspruch besteht auch, wenn die nötigen Mittel nicht rechtzeitig oder nicht hinreichend mit eigenen Mitteln beschafft werden können (Art. 17 Abs. 2 SHG NW).

Falls der Vater/die Mutter nach Ablösung des Kindes von der Sozialhilfe die IV-Kinderrente und die Ergänzungsleistungen tatsächlich nicht an das Kind ausbezahlt, dann besteht die Möglichkeit zu sagen, dass das Kind die Mittel für seinen Lebensunterhalt nicht rechtzeitig erhältlich machen kann und deshalb solange bedürftig ist, bis die finanziellen Mittel fliessen. In dieser Zeit könnte die Sozialhilfe bzw. die Gemeinde weiter finanziell unterstützen und natürlich auch die Bezahlung der Leistungen an sich verlangen. Dies bedingt für mich aber, dass die Gemeinde bzw. allenfalls der Beistand des Kindes dafür besorgt ist, dass die Leistungen schliesslich dem Kind zufliessen (Vorgehen siehe meine erste Antwort).

Zusammengefasst: Für mich lässt sich die Unterstützung des Kindes durch die Gemeinde gestützt auf das SHG NW solange aufrecht erhalten, bis die IV-Kinderrente und die Eränzungsleistungen definitiv dem Kind zufliessen.

Ihre letzte Frage beantworte ich gerne ebenfalls separat.

Freundliche Grüsse

Anja Loosli Brendach 

Frage beantwortet am

Anja Loosli Brendebach

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Dell'Amore, Sehr geehrte Frau Herdener

Gerne beantworte ich Ihre letzte folgende Frage:

Welches Vorgehen ist aus rechtlichen Überlegungen korrekt, wenn:

- ein Elternteil WSH bezieht? Kann von einer Gme, die z. B. nur die Mutter finanziell unterstützt, verlangt werden, dass die administrative Verwaltung für das nicht von ihnen unterstützte Kind vorgenommen wird?

- kein Elternteil WSH bezieht (oder nicht bekannt ist, wie der Lebensunterhalt bestritten wird)? Wäre es legitim, eine Erweiterung der Aufgaben der Beiständin/des Beistandes in Betracht zu ziehen?

Die administrative Verwaltung stellt meiner Ansicht nach eine Möglichkeit dar, persönliche Sozialhilfe zu erbringen. Auf diese hat Anspruch, wer sich in persönlichen Schwierigkeiten befindet (Art. 14 Abs. 1 SHG NW). Sind die Eltern nicht in der Lage, sich um die administrativen Belange des Kindes zu kümmern, kann die Sozialhilfe nach meiner Ansicht diese für das finanziell nicht bedürftige Kind übernehmen, wenn sonst die Schwierigkeit besteht, dass das Kind in finanzielle Schwierigkeiten gerät oder schon geraten ist. Ebenfalls möglich und meiner Ansicht nach sinnvoller (da sonst faktisch zwei Beistände bestehen) ist aber der Antrag, die Aufgaben der Beiständin/des Beistandes zu erweitern. Beides gilt sowohl für den Fall, wenn die Eltern bedürftig sind, wie auch für den Fall, wenn sie nicht bedürftig sind, denn die persönliche Beratung der Sozialhilfe ist nicht an die finanzielle Bedürftigkeit des Kindes oder der Eltern gebunden.

Ich hoffe, Ihnen mit dieser Antwort weiterhelfen zu können.

Ich wünsche Ihnen schöne Festtage und grüsse Sie freundlich.

Anja Loosli Brendebach