Guten Tag
Schadenfall im Sinne von Art. 454 Abs. 1 und 2 ZGB?
Sachverhalt:
(1) Eine Beistandschaft (Einkommens- und Vermögensverwaltung gemäss Art. 394 Abs. 1 und 2 i.V. 395 Abs. 1 ZGB) wurde aus einem anderen Bezirk übernommen. Die vorhergehende Beiständin gewährte dem Klienten während ca. 2 Jahren grosszügige Zuschüsse zum Lebensunterhalt und ZVV-Monatsabonnements in der Höhe von ca. Fr. 4‘000.-welche zu einem Ausgabenüberschuss geführt haben. Bei der Übergabe betrug der Kontosaldo des Verkehrskontos ca. Fr. 100.-. Zudem gab es eine offene Heimrechnung, für welche die Einnahmen bereits auf dem Verkehrskonto des Klienten eigegangen waren. Auch wurden nicht alle Ansprüche auf Zusatzleistungen zur AHV/IV geltend gemacht. Letztere konnten aber vom neuen Beistand rückwirkend geltend gemacht werden. Sowohl die abgebende KESB wie auch die übernehmende KESB haben den Rechenschaftsbericht abgenommen.
(2) Der neue Beistand hat die offene Heimrechnung im Folgemonat bezahlt, kann dafür aber nun (nach Austritt des Klienten aus der Institution) die letzte Heimrechnung nicht mehr bezahlen.
Fragen:
Liegt hier ein Schadenfall i.S. von Art. 454 ZGB vor (unfreiwillige Vermögenseinbusse i.S. einer Verminderung des Reinvermögens, berechnet als Differenz zw. dem Vermögensstand nach dem Schädigenden Ereignis und jenem ohne das letztere)? Falls ja worin würde der Schaden bestehen, das Geld kam ja dem Klienten zugute und er hat sich diese Extrazahlungen gewünscht (Selbstbestimmung) und möglicherweise konnten Bussen von der ZVV verhindert werden. Liegt Widerrechtlichkeit vor, wegen Verhaltensunrecht zufolge Missachtung der erforderlichen Sorgfalt bei der Vermögensverwaltung?
Ist der aktuelle Beistand verpflichtet gestützt auf diese Bestimmung (im Sinne von Art. 454 ZGB) den Schaden geltend zu machen?
Hat der übernehmende Beistand auch eine Sorgfaltspflicht verletzt, weil er eine Heimrechnung, welche vor seiner Zuständigkeit lag bezahlt hat und nun die aktuelle Heimrechnung nicht bezahlen kann?
Besten Dank und freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrte Frau Zoppi
Entschuldigen Sie bitte die verspätete Bearbeitung Ihrer Anfrage, sie ist bei mir versehentlich liegen geblieben.
Um eine Haftungsfrage abschliessend beantworten zu können, müssen die konkreten Umstände des Einzelfalls und die zu erfüllenden Aufgaben des Mandats sorgfältig eruiert werden. Ich kann Ihnen hier, gestützt auf den geschilderten Sachverhalt, nur eine allgemeine Einschätzung geben.
Zu Frage 1
Es besteht eine Beistandschaft mit Einkommens- und Vermögensverwaltung nach Art. 394 Abs. 1 und 2 i.V. 395 Abs. 1 ZGB. Ich gehe davon aus, dass der Umfang der Verwaltungstätigkeit sämtliches Einkommen und Vermögen betrifft.
Nach Art. 408 Abs. 1 ZGB hat die Beiständin die Pflicht zur sorgfältigen Verwaltung des Einkommens und Vermögens. Nach Art. 409 ZGB stellt die Beiständin der betroffenen Person aus deren Vermögen angemessene Beträge zur freien Verfügung. Um solche Beiträge, hier „Zuschüsse zum Lebensunterhalt“ genannt, festlegen zu können, bedarf es in der Regel eines Budgets. Sie können nur gewährt werden, wenn es die aktuellen und zukünftigen Vermögensverhältnisse zulassen (Frey/Peter/Rosch, Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz, N 1406). Die Selbstbestimmung hat dort ihre Grenzen, wo der Klient Beträge aus seinem Vermögen wünscht und damit existenzielle Grundbedürfnisse bedroht (Frey/Peter/Rosch, Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz, N 1385 und 1404 f.; Anderer, Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz, N 1541). Vorliegend kann die Heimrechnung, also die Unterkunft, nicht begleichen werden. Die bisherige Beiständin hat die Zahlungsfähigkeit des Klienten für den notwendigen Lebensbedarf nicht sichergestellt, was als sorgfaltspflichtwidrig zu bezeichnen ist.
Als Schaden wird die Differenz zwischen dem heutigen Vermögensstand des Klienten und dem mutmasslichen Vermögensstand, den er ohne das schädigende Ereignis hätte, bezeichnet. Vorliegend massgeblich ist die Differenz zwischen dem Vermögensstand mit und ohne den als unzulässig erachteten Zuschüssen zum Lebensunterhalt (vgl. dazu BGE 136 III 113: Die verbeiratete Person verbrauchte innert weniger Jahre das ganze Vermögen und der Beirat hat nicht interveniert, womit er seine Sorgfaltspflicht verletzte).
Der Schaden ist ein reiner Vermögensschaden und die Widerrechtlichkeit besteht in der Verletzung der Sorgfaltspflichten nach Art. 408 Abs. 1 ZGB (Anderer, Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz, 1563 ff.).
Auch wenn die abgebende KESB den Rechenschaftsbericht der ehemaligen Beiständin abgenommen hat (die übernehmende KESB kann die Prüfung und Genehmigung von Schlussbericht und Schlussrechnung nicht vornehmen), berührt das die Verantwortlichkeit nicht. Mit der Genehmigung nach Art. 415 ZGB bringt die KESB lediglich zum Ausdruck, dass sie die Rechnungsführung, die Vertretung und Verwaltung und die Betreuung durch den Beistand für die entsprechende Periode für richtig befindet (BSK ZGB I-Vogel, Art. 415 N 11).
Stellt der neue Beistand fest, dass die betroffene Person durch die Mandatsführung der vorherigen Beiständin zu Schaden gekommen ist, so hat er die Interessen des Klienten zu wahren und die Schadensregulierung an die Hand zu nehmen (Anderer, Handbuch Kindes- und Erwachsenenschutz, N 1540).
Zu Frage 2
Der neue Beistand hat Zahlungen getätigt, obwohl der Klient im Zeitpunkt der Mandatsübergabe nur Fr. 100 auf dem Verkehrskonto hatte und eine Heimrechnung noch zu begleichen war. Das kann als sorgfaltspflichtwidrig bezeichnet werden, der Beistand hätte sich zuerst ein Bild über die Finanzen verschaffen und ein Budget erstellen müssen. Allerdings hat sich der Schaden hauptsächlich in den 2 Jahren zuvor realisiert, weshalb ich keine Haftung oder höchsten ein anteilsmässige Haftung des neuen Beistands sehe.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 27.5.2020
Karin Anderer