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Rückwirkende Übernahme von Krankheitskosten während des Bezugs von WSH

Veröffentlicht:
16.05.2022
Kanton:
Luzern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

Ein Klient von mir hat mir einige leistungsabrechnungen zugestellt, welche älter als 6 Monate sind, jedoch alle innerhalb vom Rahmen des Bezugs von wirtschaftlicher Sozialhilfe derselben Gemeinde liegen, wo er auch jetzt noch WSH bezieht. Die Gemeinde teilte mir mit, sie übernehmen Krankheitskosten rückwirkend nur für die vergangenen 6 Monate. Ich kann dies nicht nachvollziehen und finde keine entsprechenden Hinweise im Gesetz, Handbuch (Kt. LU) oder in den SKOS RL. Gibt es für die WSH eine Frist, wie lange rückwirkend Krankheitskosten übernommen werden bspw. analog der EL?

Besten Dank und herzliche Grüsse

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Ich kann vorwegnehmen, dass für die Vorgabe der Gemeinde zur rückwirkenden Kostenübernahme «nur» während 6 Monaten keine rechtliche Grundlage besteht. Im Zusammenhang mit der rückwirkenden Übernahme von Kosten, die in die Unterstützungsperiode fallen, können allenfalls folgende zeitliche Begrenzungen diskutiert werden:

  • Bedarfsdeckungsprinzip
  • Rechtskraft von monatlichen Abrechnungsverfügungen
  • Verjährung

Zum Bedarfsdeckungsprinzip

Gemäss dem in den SKOS-RL A.3. Abs. 4 (welche für den Kanton Luzern wegleitend sind, § 31 SHG/LU) erstreckt sich die wirtschaftliche Hilfe nicht auf bereits überwundene Notlagen, weshalb eine unterstützte Person nicht verlangen kann, dass ihr für die Vergangenheit wirtschaftliche Hilfe ausgerichtet wird, selbst wenn der Anspruch bestanden hätte (siehe dazu auch die Erläuterung c. zu SKOS-RL A.3; Wizent Guido, Die sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Diss. Zürich/St. Gallen 2014, S. 257 ff.; derselbe, Sozialhilferecht, alphaius, Dike 2020, S. 160 f.). Dieses Prinzip gilt jedoch nicht absolut. Die Übernahme von Schulden kann ausnahmsweise etwa dann geboten sein, wenn durch deren Nichtbezahlung eine neue Notlage herbeigeführt würde, welche wiederum nur mit wirtschaftlicher Hilfe behoben werden könnte. 

Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob es sich bei den Leistungsabrechnungen um eine bereits überwundene Notlage handelt. Dies ist zu verneinen, wenn es sich dabei noch um offene Rechnungen handelt. Insoweit besteht aktuell ein Bedarf, dass während der Unterstützungsperiode angefallene Selbstbehalt und Franchise im Rahmen der wirtschaftlichen Hilfe abgegolten wird, die Teil der medizinischen Grundversorgung sind. Selbst wenn die unterstützte Person diese aus dem Grundbedarf vorgeschossen hat, bin ich der Meinung, dass aus Rechtsgleichheitsgründen die Leistungsabrechnungen vergütet werden müssen, obschon an sich der Bedarf überwunden ist. Es wäre ein falsches Signal, wenn nicht sogar treuwidrig, wenn in diesen Fällen das Bedarfsdeckungsprinzip entgegengehalten würde. So würden unterstützte Person bestraft, die für die fristgerechte Begleichung der Rechnungen besorgt sind.

Aus dem Bedarfsdeckungsprinzip lässt sich keine Frist ableiten wie die von der Behörde behaupteten 6 Monate. Dreh- und Angelpunkt ist der aktuelle Bedarf: Was davorliegt, liegt in der Vergangenheit. Wie bereits vorstehend ausgeführt, wäre eine solch strenge Sichtweise bei Leistungsabrechnungen im Bereich der medizinischen Grundversorgung unverhältnismässig (siehe zum Thema rückwirkende Übernahme von Transportkosten als situationsbedingte Leistungen das Urteil 100.2021.91U vom 12. Oktober 2021 des Berner Verwaltungsgerichts). Ich bin der Auffassung, dass die Sozialhilfe die unterstützten Personen über eine unverzügliche Vorlage von Leistungsabrechnungen vorgängig informieren müsste. Gleichwohl müsste sie unterstützten Person, die mit administrativen Belangen überfordert sind, eine grosszügige Handhabung zugestehen. Mir scheint daher praktikabler und rechtlich angezeigt, dass die Sozialhilfe unbürokratisch auch länger zurückliegende Leistungsabrechnungen übernimmt.

Zur Rechtskraft von monatlichen Abrechnungsverfügungen

Falls gegenüber der unterstützten Person die monatliche wirtschaftliche Hilfe mit Verfügung abgerechnet wird, könnte die Auffassung vertreten werden, dass damit der monatliche Bedarf jeweils rechtskräftig beurteilt und abgegolten wurde, wenn die Verfügung nicht angefochten wird. Akzeptiert also die unterstützte Person die verfügte Abrechnung (erhebt kein Rechtsmittel), kann sie Kosten für die betreffende Zeit, die bereits damals mit der Leistungsabrechnung vorlagen, nur noch auf dem Weg der Wiedererwägung (§ 116 VRG / LU) geltend machen. Die Verwaltungsbehörde ist nach § 116 VRG / LU aber nicht verpflichtet auf das Gesuch einzutreten (Kann-Vorschrift), ausserdem müssen wichtige Gründe vorliegen.

Die Berufung auf die rechtkräftig verfügte wirtschaftliche Hilfe scheint aus meiner Sicht dann vertretbar, wenn den unterstützten Personen diese Bedeutung der Abrechnung klar ist, wobei es diesbezüglich sicher auch andere Meinungen gibt.  Generell ist es eine formalistische Sichtweise, die im Einzelfall hinterfragt werden sollte. Mit Hilfe des oben ausgeführten Bedarfsdeckungsprinzips könnte argumentiert werden, dass aufgrund der Aktualität des Bedarfs gar noch nicht darüber verfügt wurde.

Zur Verjährung

Selbst wenn nicht geregelt, bildet die Verjährung im öffentlichen Recht ein allgemeiner Rechtsgrundsatz und bei fehlender Regelung können die Verjährungsregeln des OR zur Anwendung gelangen, dabei sind 5 Jahre oder 10 Jahre (Art. 127 und 128 OR) vorgesehen (vgl. Häfelin / Müller / Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Auflage, Dike, Rz. 767 ff. und 777 ff.). Die Sozialhilfe gilt generell als periodische Leistung, so dass grundsätzlich 5 Jahre massgebend sind für Leistungsansprüche, die die Unterstützungsperiode betreffen. Dies führt in Ihrem Fall zum Ergebnis, dass die Forderung der Klientin noch nicht verjährt ist.

Bei den Ergänzungsleistungen wurde für diese Frage übrigens mit Art. 15 ELG vorgesorgt, wonach eine 15-monatige Verwirkungsfrist gilt, andernfalls würde auch dort die 5-jährige Verjährungsfrist nach Art. 24 ATSG gelten.

Zusammenfassend fehlt der 6-Monatsfrist die rechtliche Grundlage, weshalb sich die Behörde nicht darauf berufen kann. Vielmehr könnte sie vorliegend das Bedarfsdeckungsprinzip oder unter Umständen die Rechtskraft von Abrechnungsverfügungen ins Feld führen. Ich vertrete aber, wie oben dargelegt, die Auffassung, dass Zurückhaltung angezeigt ist. Demnach erscheint es mir im vorliegenden Fall rechtlich angezeigt, dass die rückwirkenden Leistungsabrechnungen übernommen werden.

Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Frage beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder