Guten Tag
Aufgrund von Volljährigkeit wurde die Sozialhilfe der Tochter einer unterstützten Familie ab Februar 2022 in ein eigenständiges Dossier überführt. Für Februar bezahlten wir ein Budget und im März fand ein Termin statt, anlässlich dessen besprochen wurden, welche Unterlagen zur künftigen Bemessung der Bedürftigkeit noch fehlten (insb. Lohnabrechnungen, zudem verlangten wir Kontoauszüge). Es wurde vereinbart, dass das Budget Mai bezahlt werden könne, sobald die Lohnabrechnung Februar vorläge. Die Klientin reichte in der Folge trotz mehrfachen Aufforderungen und ausstehenden Budgetzahlungen keine Unterlagen ein und vereinbarte Termine wurden nicht wahrgenommen. Für mich war nicht klar, ob sie die Unterstützung überhaupt wollte, zumal sich die Eltern im Mai von der Sozialhilfe ablösen konnten.
Mit Schreiben vom 1. Juli 2022 mahnten wir sie nach einem verpassten Termin schliesslich nochmals, die erforderlichen Unterlagen einzureichen und kündigten eine rückwirkende Einstellung per 28.02.2022 an (seither hatten wir aufgrund der unklaren Situation ohnehin keine Zahlungen mehr an die Klientin getätigt).
Die Klientin hat nun kurz nach der Mahnung die erforderlichen Lohnabrechnungen inkl. Kontoauszüge der letzten Monate eingereicht. Sie scheint mit ihrem Lehrlingslohn und Unterstützung von Verwandten knapp durchgekommen zu sein. Können wir ihr nun rückwirkend ab März 2022 sämtliche Budgets unter Anrechnung der geringfügigen Zuwendung von Verwandten berechnen und auszahlen oder widerspräche das dem Prinzip, dass die Sozialhilfe nur die gegenwärtige Bedürftigkeit anschaut?
Und gibt es verfahrenstechnische Empfehlungen für solche Fälle, wo aufgrund widersprüchlichen Verhaltens der Person unklar ist, ob sie noch Sozialhilfe beziehen will oder nicht?
Ich bin gespannt auf Ihre Rückmeldung!
Frage beantwortet am
Melanie Studer
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Gerne beantworte ich Ihre Frage wie folgt:
Aus Ihrer Anfrage schliesse ich, dass im Februar 2022 ein Gesuch um Sozialhilfe gestellt wurde und Sie dann für Februar 2022 eine Bedürftigkeit festgestellt haben. Um die weitere Bedürftigkeit abzuklären, haben Sie von der Klientin im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht (vgl. Art. 28 Abs. 1 SHG Bern) Unterlagen eingefordert, welche zwar spät, aber eben doch, eingereicht wurden.
Das korrekte Vorgehen ist nun in der Tat, für die Monate März 2022 bis heute die konkrete Budgetberechnung vorzunehmen und einen allfälligen Fehlbetrag auszuzahlen. Das verstösst nicht gegen das Bedarfsdeckungs- oder Gegenwärtigkeitsprinzip. Im SHG Bern, der SHV Bern und den SKOS-RL wird dies im Sinne des Bedarfsdeckungsprinzip nicht explizit ausgeführt, hingegen ist das BKSE Stichwort «Unterstützungsbeginn» klar, in dem es erläutert, dass der Anspruch auf Sozialhilfe grundsätzlich ab dem Zeitpunkt beginnt, in dem ein Gesuch gestellt worden ist – das knüpft auch an Art. 49 SHG Bern an, wo festgehalten wird, dass das Verfahren um Gewährung der Sozialhilfe mit dem Gesuch (oder in Ausnahmefällen von Amtes wegen) eröffnet wird. D.h. in diesem Rahmen ist auch «rückwirkend» Hilfe zu gewähren, nämlich für den Zeitpunkt ab Gesuchseinreichung bis zur Klärung der Bedürftigkeit. Einzig für allfällige Fehlbeträge für den Zeitraum vor Einreichung eines Gesuches ist i.S. des Bedarfsdeckungsprinzips, wonach nur ein aktueller Bedarf gedeckt wird, keine Sozialhilfe zu erbringen.
In Ihrem Fall ist zwischen der Gesuchstellung und der Überprüfung der Bedürftigkeit nun etwas Zeit vergangen. Das ändert jedoch nichts daran, dass Sie die festgestellten Fehlbeträge auszahlen müssen, da das Verfahren ausgelöst wurde und jetzt eben erst der Anspruch überprüft werden konnte.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht kann es empfehlenswert sein in ähnlich gelagerten Fällen das Verfahren etwas straffer zu führen, d.h. kürzere Fristen zu setzen und die (vermeintlich) bedürftige Person konsequenter auf ihre Mitwirkungspflichten bei der Feststellung der Bedürftigkeit hinzuweisen bis hin zur früheren Androhung der Einstellung der Hilfe respektive der Schliessung des Dossiers wegen der ungenügenden Mittwirkung bei der Feststellung der Bedürftigkeit. Der betroffenen Person ist es jedoch unbenommen, ein erneutes Gesuch zu stellen, wobei dann eine (erneute) Unterstützung erst wieder ab dem Zeitpunkt der (erneuten) Gesuchseinreichung geleistet werden muss.
Ich hoffe Ihnen mit diesen Angaben zu dienen.
Beste Grüsse
Melanie Studer