Geschätztes Experten-Team
Meine Klientin, verbeiständet seit März 2019, hat im Juli 2019 eine rückwirkende IV-Rente per 01.01.2016 zugesprochen erhalten.
Die Ausgleichskasse hat daraufhin die Berechnung vorgenommen und die externe Verrechnung durchgeführt und die Rentenleistungen rückwirkend auf das Beistandskonto ausbezahlt.
Mit Schreiben vom 13.9.2019 wurden orientiert, dass bei der Rentenberechnung bzw. -nachzahlung nicht alle IV-Taggeld-Perioden berücksichtigt wurden. Die zu viel bezogenen IV-Taggelder aus den Jahren 2017 & 2018 werden nun in der Folge zurückgefordert, beziehungsweise werden die Taggelder um einen Dreissigstel der IV-Rente (inkl. Kinderrente) gekürzt. Die gesamte Differenz-Rückforderung beträgt nun ca. Fr. 30‘000.-. Aktuell ist die Anmeldung bzw. Berechnung des Anspruches auf Ergänzungsleistungen noch pendent. Es wurde ein Verrechnungsantrag für den Fall eines EL-Anspruches gestellt. Der EL-Anspruch ist meines Erachtens gegeben, da meine Klientin derzeit in einem Wohnheim lebt und ihre Tochter fremdplatziert ist.
Nach Art. 25 Abs. 1 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine Grosse Härte vorliegt.
--> Folglich besteht nun die Möglichkeit ein begründetes Erlassgesuch zu stellen.
Für mich stellt sich die Frage, ob der Betrag in gutem Glaube bezogen wurde. Grundsätzlich hat meine Klientin das damalige IV-Taggeld gemäss damaligen Verfügungen erhalten. Sie hat die „unrechtmässigen“ Leistungen weder in bösartiger Absicht oder infolge grober Nachlässigkeit bezogen. Ich als Vertretungsbeistand hatte nicht im Detail Kenntnis über den IV-Taggeldanspruch aus den Jahren 2016/2017/2018 und habe den Entscheid vom Juli 2019 akzeptiert.
Die aktuelle Rückforderung für meine KL mit einem erwarteten EL-Anspruch würde in der Folge meiner Ansicht nach eine grosse Härte bedeuten, da sie derzeit über keinerlei Vermögen verfügt und mit Schulden belastet ist.
Besteht in diesem Fall eine Chance auf einen Erlass? Es besteht bis 30 Tage nach Eintritt dieser Verfügung die Möglichkeit eines Erlassgesuches. Folglich wäre eine Rückmeldung innerhalb dieser Frist sehr hilfreich.
Besten Dank für Ihre Unterstützung.
Freundliche Grüsse.
A.A.
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrter Herr A.
a) Gestützt auf Art. 25 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Das gilt unabhängig von einer allfälligen Meldepflichtverletzungen (Kieser, Kommentar ATSG, 3. Auflage, Art. 25 N 34 ff.). In Ihrem Fall wäre vorab zu prüfen, ob die nun vorgenommene Berechnun der tatsächlichen Ansprüche (und somit die Kürzung der Taggelder etc.) rechtens ist. Das ist nur unter genauer Prüfung des Dossiers möglich.
Diese Rückerstattungspflicht bei unrechtmässigem Bezug betrifft auch Drittpersonen oder Behörden, wenn diesen die Leistungen unrechtmässig ausgerichtet werden (Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV). So auch die Rechtsprechung (vgl. Kieser, Kommentar ATSG, 3. Auflage, Art. 25 N 34 ff.). Das gilt auf jeden Fall dann, wenn die Drittperson die Leistung erhielt im Zusammenhang mit der Verwaltung des Einkommens oder um fürsorgerisch tätig zu sein. Nicht rückerstattungspflichtig ist aber der Beistand selber (BGE 112 V 102, siehe Art. 2 Abs. 1 lit. b und c ATSV; siehe auch Kieser, Kommentar ATSG, 3. Auflage, Art. 25 N 34 ff.).
b) Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie allerdings nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt.
aa) Guter Glaube liegt vor, wenn das Bewusstsein über den unrechtmässigen Bezug fehlt und nach den konkreten Umständen objektiv entschuldbar ist. Insoweit wird das Verhalten einer Beistandsperson dem Betroffenen zugerechnet.
In Ihrem Fall ist es also entscheidend, das, soweit die Rückerstattungsforderung korrekt ist, im Erlassgesuch möglichst klar dargestellt wird, weswegen der Fehlbezug (die Nichtberücksichtigung gewisser Taggeldperioden) bei der Rentenberechnung und –nachzahlung für den Betroffenen und sie als Beistandsperson nicht ohne Weiteres erkennbar waren.
bb) Im Weiteren muss eine grosse Härte vorliegen: Eine grosse Härte liegt bei einem Bezug von EL vor, wenn die vom ELG anerkannten Ausgaben und die zusätzliche Ausgabe nach Artikel 5 Absatz 4 ATSV die nach ELG anrechenbaren Einnahmen übersteigen. (WEL 4653.01). Ein Beispiel für die Berechnungsweise bzgl. EL-Leistungen der grossen Härte finden Sie in Anhang 12 der WEL. Ist offensichtlich, dass die Voraussetzungen für den Erlass gegeben sind, kann gestützt auf Art. 3 Abs. 2 ATSV den Verzicht auf die Rückforderung bereits in der Rückforderungsverfügung entscheiden.
Gemäss Art. 50 IVG und 20 AHVG sind im Weiteren Rentenansprüche der IV und der AHV der Zwangsvollstreckung entzogen, können ansonsten aber mit diversen Rückerstattungsforderungen verrechnet werden. Das gilt auch für Forderungen aus AHVG (z.B. auf Beiträge), nach IVG oder für Rückforderungen von Renten und Taggeldern der Unfallversicherung, der Militärversicherung, der ALV und des KVG (Art. 20 Abs. 2 lit. c AHVG).
cc) Es stellt sich also die Frage, wie diese Regel, die Verrechnung der Rentenansprüche sei der Zwangsvollstreckung entzogen bedeutet:
Dazu finden sich in Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (RWL), Stand 1. Januar 2019, die notwendigen Regeln in Rz. 10919 ff. (siehe www.bsvlive.admin.ch/vollzug/documents/index/page:2/lang:deu/category:23)
10919 Die Verrechnung einer Rente bzw. Hilflosenentschädigung ist grundsätzlich nur zulässig, sofern und soweit bei der rückerstattungspflichtigen Person das betreibungsrechtliche Existenzminimum nicht unterschritten wird (ZAK 1983 S. 70).
10920 Zur Bestimmung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums (Notbedarf) vgl. Rz. 3033 der Wegleitung über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen (WSN) in der AHV, IV und EO.
dd) Zum Notbedarf (Existenzminimum) gehören, ausser dem persönlichen Grundbetrag des Zahlungspflichtigen und der familienrechtlichen Unterhaltspflichten, insbesondere auch die Miet- und Heizungskosten, die Sozialabgaben sowie allfällige Berufsauslagen und ungedeckte Krankheitskosten. Für Einzelheiten zur Bestimmung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums sind die einschlägigen kantonalen Ansätze und Berechnungsregeln heranzuziehen (…). Sie sind bei den entsprechenden Betreibungs- und Konkursämtern zu erfragen, deren Kontaktdaten auf der folgenden Internetseite erhältlich sind: dd) www.betreibung-konkurs.ch/kantone. Über jene Links sind also genauere Informationen bezüglich Berechnung des BEX verfügbar.
c) Vorgehen: Es ist ratsam, die Rechtmässigkeit der Rückforderung zu prüfen (besteht ein Rückerstattungsanspruch?) und ein Erlassgesuch einzureichen. Dabei sind die Umstände, weswegen es der Person und dem Beistand nicht erkennbar war, dass die Erstberechnung nicht korrekt war, möglichst darzustellen. Relevant sind persönliche Elemente des Klienten, aber auch Beschränkungen des Auftrages der Beistandsperson und die Kompliziertheit in der Sache selber.
Im Weiteren ist die grosse Härte zu belegen und soweit möglich die Verletzung des Notbedarfs durch den Umfang der Verrechnung ausweisen (Mietvertrag etc.; Vermögenssituation, Kosten Aufenthalt, Steuerdaten etc.).
Es besteht auch die Möglichkeit, die Angelegenheit an den Rechtsdienst von Procap oder den Rechtsdienst von Integration Handicap heranzutragen:
https://www.procap.ch/de/angebote/beratung-information/rechtsberatung.html
https://www.inclusion-handicap.ch/de/recht/rechtsberatung-44.html
Insoweit ist aber darauf zu achten, dass trotzdem die Fristen gewahrt werden.
Genügen Ihnen diese Angaben?
Freundliche Grüsse
Peter Mösch Payot