Wir haben in diesem Jahr flächendeckend in unseren Sozialhilfe-Dossier die Richtigkeit des EFB überprüft (Höhe, Anspruch etc.). Nach Abschluss der Überprüfung stellt sich bei uns nun die Frage, wie wir in Fällen vorgehen, bei denen von den Sozialarbeitenden zu viel EFB oder fälschlicherweise ein EFB ausbezahlt wurde. Sind diese Beträge (Fehler aufseiten der Sozialarbeitenden) von den Klient/-innen zurückzufordern oder zu erlassen? Sollte auf Rückforderungen verzichtet werden, werden dann trotzdem Nachzahlungen für einen zu wenig ausbezahlten EFB geleistet? Wir haben dazu im SHG Art. 43 und Art. 11c gefunden, die jedoch aus unserer Sicht einen gewissen Spielraum offen lassen.
Sind Sozialhilfeleistungen, welche ohne schuldhaftes Zutun der unterstützen Person falsch erfolgt sind zurückzufordern? Bei uns zurzeit speziell falsche Zahlungen von Einkommensfreibeträgen?
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrte Frau Aebi
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage.
a) Rückforderung aufgrund eines Fehlers des Sozialdienstes
Nach Art. 40 SHG BE sind Personen, die unrechtmässig wirtschaftliche Hilfe bezogen haben, zu deren Rückerstattung samt Zins verpflichtet. In Härtefällen kann auf Antrag der betroffenen Person hin ganz oder teilweise auf eine Rückerstattung verzichtet werden (Art. 43 Abs. 3 SHG BE). In der SHV BE werden sodann Beispiele von Situation aufgeführt, bei welchen von einem Härtefall ausgegangen werden kann (Art. 11c SHV BE) aufgeführt. D.h. Art. 43 Abs. 3 SHG in Verbindung mit Art. 11c SHV BE regelt die Befreiung von der Rückerstattungspflicht. Für die Frage des Härtefalls verweise ich neben der SHV BE auch auf das BKSE-Handbuch, das sich dazu unter dem Stichwort «Rückerstattungspflicht», Ziff. 3.4 und 4, äussert. Der Sozialhilfe kommt in dieser Frage ein erheblicher Ermessensspielraum zu, insbesondere auch, weil es sich um eine Kann-Vorschrift handelt. Grundsätzlich muss sie den Härtefall erst prüfen, wenn ein Antrag vorliegt, wobei die Sozialhilfe die betroffene Person darauf hinweisen sollte.
Die Befreiung stellt sich aber erst dann, wenn im Grundsatz eine Verpflichtung zur Rückerstattung gegeben ist.
Bei der von Ihnen geschilderten Situation stellt sich nun die Frage, ob bei Fehlern des Sozialdienstes, welche dazu führten, dass zu viel wirtschaftliche Hilfe ausgerichtet wurde, ebenfalls die Rückerstattungspflicht greift. Wie oben dargelegt, verlangt Art. 43 Abs. 3 SHG BE lediglich, dass der Bezug wirtschaftlicher Hilfe unrechtmässig war. Dabei spielt keine Rolle, ob die unterstützte Person ein Verschulden trifft oder ihr eine Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann (Verwaltungsgericht des Kantons Bern Urteil 100.2019.374 vom 12.4.21 Erw. 2.3). Auch die SKOS-RL, welche im Kanton Bern über die Verweisnorm in Art. 8 Abs. 1 gelten (Vorbehalten anderer Regelung in SHG und SHV BE), halten in E.3 fest, dass Leistungen, die wegen eines Versehens des Sozialhilfeorgans ohne Rechtsgrund ausgerichtet werden, wegen unrechtmässigem Bezug grundsätzlich rückerstattungspflichtig sind. Insofern kann als Zwischenfazit Folgendes festgehalten werden:
Fazit zu a)
Fälschlicherweise ausgerichtete wirtschaftliche Hilfe ist auch ohne Zutun der unterstützten Person zurückzufordern. Von einer Rückforderung kann auf Antrag hin abgesehen werden, wenn ein Härtefall vorliegt.
b) Aufheben/Abändern einer fehlerhaften rechtskräftigen Verfügung
Weder in den SKOS-RL, im SHG BE, in der SHV BE noch im BKSE-Handbuch werden die Voraussetzungen angesprochen, um auf eine rechtskräftig gewordene Verfügung zurückzukommen, wenn sie fehlerhaft ist. Dabei wäre aus meiner Sicht – wie im Bereich des Sozialversicherungsrechts – vorausgesetzt, dass ein Wiedererwägungsgrund vorliegt (vgl. zum Beispiel Urteil des Bundesgerichts 9C_200/2021 vom 1.7.21 E.5.1). Denn solange die Verfügung besteht, wenn auch inhaltlich nicht korrekt, ist der Leistungsbezug nicht als unrechtmässig zu betrachten, so das Bundesgericht im zitierten Urteil. Die formelle Voraussetzung der Wiedererwägung ist in der Rechtsprechung zu sozialversicherungsrechtlichen Rückforderungen bei unrechtmässigem Bezug gemäss Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG stets ein Thema. Hingegen habe ich bei kurzer Durchsicht der Rechtsprechung im Bereich der Sozialhilfe zu dieser Thematik nichts gefunden. Dennoch vertrete ich die Auffassung, dass auf fehlerhafte Verfügungen, die in Rechtskraft erwachsen sind, nur unter den Voraussetzungen der Wiedererwägung zurückgekommen werden darf. Massgebend für die Frage der Wiederwägung ist das kantonale Verfahrensrecht.
Im Gesetz vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern (BSG 155.21; VRPG BE) wird das Zurückkommen auf eine rechtskräftige Verfügung in Art. 56 geregelt. Dabei wird nicht der Begriff der Wiedererwägung, sondern der «Wiederaufnahme» verwendet. Demnach ist ein rechtskräftig erledigtes Verfahren von Amtes wegen (oder auf Gesuch hin) durch die Verwaltungsbehörde wiederaufzunehmen, wenn u.a. zwingende öffentliche Interessen es rechtfertigen (Art. 56 Abs. 1 lit. c VRPG BE). Zugunsten des Verfügungsadressaten kann die Behörde das Verfahren jederzeit wiederaufnehmen (Art. 56 Abs. 2 VRPG BE). Das VRPG regelt noch andere Gründe, die jedoch hier nicht zur Anwendung gelangen, so etwa, wenn nachträglich entscheidende Beweise oder neue erhebliche Tatsachen auftauchen (Art. 56 Abs. 1 lit. b VRPG BE).
Daraus folgt, dass für eine Wiederaufnahme zu Ungunsten der betroffenen Person «zwingende öffentliche Interessen» vorliegen müssen. Wann von einem zwingenden öffentlichen Interesse auszugehen ist, definiert das Gesetz nicht. Der Behörde kommt bei der Auslegung ein erheblicher Ermessensspielraum zu, wobei der Begriff «zwingend» darauf hinweist, dass nicht jedes öffentliche Interesse genügt. Im Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern (Herausgeber Ruth Herzog, Michel Dum) zu Art. 56 Abs. 1 lit. c VRPG (Randziffer 17) vertritt Markus Müller unter Verweis auf ein älteres Urteil des Berner Verwaltungsgerichts in Steuersachen (BVR 2000 S. 77) die Auffassung, dass rein finanzielle Interessen oder auch das allgemeine Interesse an einer richtigen Rechtsanwendung nicht genügend dürften. Ein zwingendes öffentliches Interesse muss vielmehr öffentliche Güter wie Schutz von Leben, Eigentum, Umwelt, Ortsbild zum Gegenstand haben.
In Ihrem Fall steht aber gerade die richtige Rechtsanwendung und finanzielle Interessen des Staates im Zentrum. Die richtige Rechtsanwendung wäre das rückwirkend korrekte Bemessen des Einkommensfreibetrages, ein öffentliches Gut ist dabei nicht betroffen. Andererseits schreibt das SHG BE gerade vor, dass unrechtmässiger Bezug von wirtschaftlicher Hilfe nicht ohne Folgen bleiben darf. Insoweit besteht also ein öffentliches Interesse fehlerhaft bemessene wirtschaftliche Hilfe rückwirkend zu korrigieren und das betreffende Verfahren wieder aufzunehmen. Zudem handelt es sich bei der wirtschaftlichen Hilfe in der Regel um wiederkehrende Leistungen. Ein Fehler kann sich also über längere Zeit auswirken, wenn er unentdeckt bleibt. In diesem Fall lässt sich dem o.e. Kommentar zum VRPG des Kantons Bern (Randziffer 17) entnehmen, dass diese Situation als Wiederaufnahmegrund im Sinne von Art. 56 Abs. 1 lit. c VRPG BE in Frage kommen kann. Der Fehler müsse aber eine gewisse Schwere aufweisen und sich unkorrigiert über einen längeren Zeitraum erstrecken.
Allenfalls könnte die Rechtsprechung im Bereich des Sozialversicherungsrechts herangezogen werden, wo eine Wiedererwägung mit Blick auf eine Rückerstattung dann zulässig ist, wenn der Fehler offensichtlich (es dürfen keine Zweifel darüber bestehen) und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG; z.B. Verwaltungsgericht Zürich ZL.2017.0067 vom 28. Mai 2018 Erw. 1.3 mit Beispielen zu erheblichen Beträgen). Bei Dauerleistungen bzw. wiederkehrenden Leistung wird in der Rechtsprechung im Bereich Sozialversicherungsrecht die Erheblichkeit regelmässig bejaht (vgl. BGE 119 V 475 E.1c S. 480).
Nach dem Gesagten darf auf eine in Rechtskraft erwachsene fehlerhafte Verfügung zu Ungunsten der betroffenen Person unter der Voraussetzung der Wiederaufnahme nach Art. 56 VRPG zurückgekommen werden, soweit ein zwingendes öffentliches Interesse dies gebietet. Bei wiederkehrenden Leistungen könnte dies eher bejaht werden, wobei es sich um einen klaren Fehler handeln muss.
Zu Gunsten der betroffenen Person kann die Verwaltung nach Art. 56 Abs. 1 Satz 2 VRPG BE hingegen jederzeit auf eine rechtskräftige Verfügung zurückkommen. D.h. in dieser Hinsicht muss kein zwingendes öffentliches Interesse vorliegen. Die Behörde ist freier und kann unter Berücksichtigung von Aspekten der Rechtsgleichheit, der korrekten Rechtsanwendung, des Verwaltungsaufwandes über das Zurückkommen auf eine fehlerhafte Verfügung entscheiden (dazu auch Markus Müller, a.a.O., Rz. 20 ff.). Falls in der geschilderten Situation beschlossen wird, systematisch die fehlerhaften Verfügungen zu Ungunsten der betroffenen Person zu korrigieren, dann drängt sich meiner Meinung nach unter Berücksichtigung von Art. 56 Abs. 1 Satz 2 VRPG BE auf, dies gleichermassen auch zu Gunsten von betroffenen Personen zu tun.
Fazit zu b)
Auf rechtskräftige Verfügungen kann im Sinne der Wiedererwägung bzw. Wiederaufnahme zurückgekommen werden, wobei höhere Voraussetzungen erfüllt sein müssen, wenn dies zu Ungunsten der betroffenen Person geschieht. Falls sich ein Fehler wiederkehrend auswirkt, dann kann eher davon ausgegangen werden, dass ein zwingendes öffentliches Interesse vorliegt, um auch zu Ungunsten der betroffenen Person auf eine rechtskräftige Verfügung zurückzukommen. Bei Korrektur von Verfügungen zu Gunsten der betroffenen Person sind die Hürden weniger hoch. Die Korrektur zu Gunsten der betroffenen Person drängt sich aus Rechtsgleichheitsgründen jedenfalls dann auf, wenn gleichartige Fälle jeweils zu Ungunsten korrigiert werden.
bb) Falls der Einkommensfreibetrag formlos zugesprochen wurde?
Falls der Einkommensfreibetrag nicht Gegenstand einer Verfügung war, sondern einer einfachen Abrechnung, dann würden meiner Meinung nach die Regeln der Wiederaufnahme nach Art. 56 VRPG BE analog zur Anwendung gelangen (Markus Müller, a.a.O., Rz. 1). Handelt es sich einfach um eine Falschauszahlung ohne schriftliche Bestätigung wäre denkbar, dass keine formalen Voraussetzungen nach Art. 56 VRPG BE erfüllt sein müssen und jegliches öffentliches Interesse es rechtfertigt, den Vorgang rückgängig zu machen.
c) Grenze der Rückerstattungsforderung: Verjährung
Rückerstattungsforderungen können nur solange geltend gemacht werden, als sie nicht verjährt sind. Die Verjährung ist in Art. 45 SHG BE geregelt. Massgebend ist Absatz 1 von Art. 45 SHG BE, wonach der Rückerstattungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres verjährt, nachdem der Sozialdienst Kenntnis erhalten hat, dass ein rückerstattungsrelevanter Sachverhalt vorliegt, für jede einzelne Leistung aber spätestens zehn Jahre nach deren Ausrichtung.
Nach dem BKSE-Handbuch (Stichwort «Rückerstattungspflicht, Ziff. 5) wird unter "Kenntnis erhalten" derjenige Zeitpunkt verstanden, in dem der Sozialdienst bei Beachtung der ihm zumutbaren Aufmerksamkeit anhand der gegebenen Verhältnisse den Umstand hätte wahrnehmen müssen, dass ein rückerstattungsrelevanter Sachverhalt vorliegt.
Übertragen auf die von Ihnen geschilderte Situation bedeutet dies: Die einjährige Verjährung beginnt im Zeitpunkt zu laufen, als der Sozialhilfe alle Fakten bekannt waren, um den Einkommensfreibetrag korrekt bemessen zu können, sie dies aber fälschlicherweise unterliess. Nicht massgebend ist also der Zeitpunkt der Revision. Falls die Fakten nicht alle bekannt waren, die Sozialhilfe es aber unterliess diese innert nützlicher Frist abzuklären, obschon der Abklärungsbedarf erkennbar war, beginnt die Frist auch bereits zu diesem Zeitpunkt zu laufen, da sie die zumutbare Aufmerksamkeit nicht walten liess.
Fazit zu c):
Liegt die (zumutbare) Kenntnisnahme länger als ein Jahr zurück, dann ist die Rückforderung in Bezug auf die über ein Jahr zurückliegenden Einkommensfreibeträge verjährt (vgl. dazu die Rechtsprechung im Sozialversicherungsrecht BGE 139 V 11 E. 5.2).
d) Grenze des Nachzahlungsanspruchs: Verjährung – Bedarfsdeckungsprinzip?
Wenn es darum geht, dass Einkommensfreibeträge nachbezahlt werden sollen, weil fälschlicherweise keine oder zu tiefe ausgerichtet wurden, dann stellt sich auch die Frage der Verjährung. Für diese Frage ist jedoch weder im SHG BE noch in der SHV BE die Verjährung geregelt. Selbst wenn nicht geregelt, bildet die Verjährung im öffentlichen Recht ein ungeschriebener Rechtsgrundsatz und bei fehlender Regelung können die Verjährungsregeln des OR zur Anwendung gelangen, dabei sind 5 Jahre oder 10 Jahre (Art. 127 und 128 OR) vorgesehen. Die Sozialhilfe gilt generell als periodische Leistung, so dass grundsätzlich 5 Jahre massgebend sind für Leistungsansprüche, die die Unterstützungsperiode betreffen.
Anstelle der Regelung im OR könnte ich mir auch vorstellen, die Verjährung zur Rückerstattung (oben unter c) analog auf einen Nachzahlungsanspruch anzuwenden. Dies wäre insoweit sachgerecht, als auch bei Nachzahlungsansprüchen die einjährige Frist ab zumutbarer Kenntnisnahme des Umstandes zum Tragen käme, welcher dem Nachzahlungsanspruch zugrunde liegt. Auch zu dieser Frage habe ich jedoch keine Rechtsprechungshinweise gefunden.
Letztlich könnte argumentiert werden, dass die Sozialhilfe nach Bedarfsdeckungsprinzip lediglich den aktuellen Bedarf deckt und für überwundene Notlagen nicht aufkommt (SKOS-RL A.3 Abs. 4). Falls jedoch die Sozialhilfe praxisgemäss zu hoch bemessene wirtschaftliche Hilfe rückfordert, bin ich der Auffassung, dass sie Fälle gleichbehandeln sollte, wo sie zu wenig ausgerichtet hat, und damit konsequenterweise die fehlenden Beträge nachzahlt.
Wie Sie den Ausführungen entnehmen können, handelt es sich doch um eine komplexe Fragestellung, welche Ihrer Anfrage zugrunde liegt. Aus diesem Grund hat die Beantwortung auch etwas mehr Zeit in Anspruch genommen. Ich hoffe aber, Ihnen mit den Ausführungen Ihre Fragen beantwortet zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Nachtrag: Siehe zu d) auch die am 2.9.21 beantwortete Anfrage "Sozialhilferecht: Rückerstattung Arbeitsweg".