Ich habe folgende Frage zur Rückerstattungspflicht:
Die betroffene Person: eine junge Frau mit einer Behinderung aber nicht berechtigt zum Bezug von IV-Leistungen (aus einem Land in die Schweiz migriert, dass kein Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz hat).
Für die Erstausbildung hat das Sozialamt der Wohngemeinde (Kanton AG) die Kosten der Berufsschule (eine Sonderschule für Menschen mit einer Behinderung) übernommen. Die junge Frau hat die Lehre erfolgreich abgeschlossen. Nun besteht das Sozialamt darauf, dass diese Kosten (ca 50’000.- Fr.) rückerstattungspflichtig sind.
Gestützt auf SKOS bewerten wir dies aus zwei Gründen als falsch:
E.2.4.: Abs2a Von der Rückerstattungspflicht ausgenommen werden Leistungen die zur beruflichen und sozialen Integration geleistet wurden.
E.2.4. Abs 2c aus Gründen einer Behinderung
Beide Gründe scheinen uns erfüllt zu sein. Die Frau war aufgrund ihrer Behinderung auf eine spezialisierte Berufsschule für die Erstausbildung angewiesen.
Unser Ziel ist es ein Gesuch einzureichen um einen Verzicht der Rückerstattung zu erreichen.
Können wir wie o.e. argumentieren?
Was muss noch beachtet werden?
Sollte auch auf das Behindertengleichstellungsgesetz Bezug genommen werden?
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Morgen Frau Hedinger
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage.
ch gehe bei Ihrer Frage davon aus, dass es um die Frage von der Rückerstattung rechtmässig bezogener materieller Hilfe geht und nicht die Frage des unrechtmässigen Bezugs. Rechtmässig bezogene materielle Hilfe kann in zwei Fällen von der unterstützten Person zurückgefordert werden: Bei Nachzahlungen für eine Zeit, während dieser materielle Hilfe bezogen wurde (Bevorschussungsfall) oder, wenn jemand in günstige Verhältnisse gelangt. Das Sozialhilfe- und Präventionsgesetz des Kantons Aargau (SPG AG) sowie die Sozialhilfe- und Präventionsverordnung des Kantons Aargau regeln diese beiden Fälle in folgenden Bestimmungen:
- Rückerstattung bei Bevorschussung: § 12 SPG AG
- Rückerstattung bei günstigen Verhältnissen: § 20 SPG AG und § 20 SPV AG
Ausnahmebestimmungen zur Rückerstattungspflicht gibt es Folgende, die in Ihrem Fall relevant sein könnten:
- Vom Regierungsrat beschlossene zusätzliche finanzielle Beträge an unterstützte Personen, die dazu beitragen, dass sie weniger Sozialhilfe beziehen (§ 24 Abs. 2 i.V.m. § 24 Abs. 1 lit. b SPG AG)
- Solche zusätzlichen Beiträge sind unter Ziff. 4.1 SPV AG geregelt:
- Einkommensfreibetrag (§ 20a SPV AG)
- Integrationszulage (§ 20b SPV AG)
- Solche zusätzlichen Beiträge sind unter Ziff. 4.1 SPV AG geregelt:
- Die Kosten für die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen (§ 41 SPG AG)
- Die Kosten für Einarbeitungszuschüsse (§ 30a SPV AG)
- Die an Minderjährige und Volljährige in Ausbildung bis zum vollendeten 20. Altersjahr ausgerichteten Leistungen (§ 20 Abs. 4 SPV AG)
- Verjährte Rückerstattungsforderungen (vgl. § 22 SPG AG)
Zwischenfazit: Zunächst ist festzuhalten, dass die Gemeinde nur rechtmässig bezogene materielle Hilfe zurückfordern kann, wenn die Klientin im Bevorschussungsfall Nachzahlungen erhält oder sie in günstige Verhältnisse gelangt (dazu § 20 Abs. 1 SPV AG und Handbuch Soziales Ziff. 20.2).
Einfach so, z.B. weil die Ausbildung abgeschlossen ist, darf die Gemeinde die rechtmässig bezogene wirtschaftliche Hilfe nicht zurückfordern.
Als Ausnahmegrund in Ihrem Fall käme die Befreiung von bis 20-jährigen in Ausbildung in Frage. D.h. sämtliche Ausbildungskosten, die die Gemeinde finanziert hatte, als Ihre Klientin noch nicht 20 Jahre alt war, darf die Gemeinde gestützt auf § 20 Abs. 4 SPV AG nicht zurückfordern. Im Handbuch Soziales wird in Ziff. 2.5 bei den Minderjährigen zwar in Bezug auf den eigenen Unterstützungswohnsitz differenziert. Ich kann diese Differenzierung nicht nachvollziehen und ergibt sich auch nicht aus § 20 Abs. 4 SPV AG. Meiner Meinung nach sind in jedem Fall die als Minderjährige oder als Volljähriger in Ausbildung bis 20. Altersjahr bezogene materielle Hilfe nicht rückerstattungspflichtig. Alles andere wäre rechtsungleich und deshalb verfassungswidrig.
Des Weiteren sehen die SKOS-RL ebenfalls Ausnahmegründe vor, wie Sie richtig festhalten. Massgebend für den Kanton Aargau sind aber nicht die aktuellen SKOS-RL, sondern jene Stand 1.1.17 (vgl. § 10 Abs. 1 SPV AG) . In Kap. E.3.1 SKOS-RL wird folgende Ausnahme erwähnt:
«Keine Rückerstattungspflicht auf Leistungen, welche zur Förderung der beruflichen und sozialen Integration gewährt wurden (EFB, IZU, SIL im Zusammenhang mit Integrationsmassnahmen).»
Indem die SKOS-RL die SIL, welche im Zusammenhang mit Integrationsmassnahmen gewährt werden, gehen sie weiter wie das oben dargelegte kantonale Recht. Die SKOS-RL sind aber für den Kanton Aargau als verbindlich, was aus meiner Sicht auch für diese Ausnahmeregelung gelten muss. Teilweise wird gefragt, ob die Bemessung, wofür die SKOS-RL verbindlich sind, auch die Thematik der Rückerstattung umfasst. Immerhin hat das Aargauer Verwaltungsgericht in einem Entscheid WBE.2018.157 vom 20.9.18 Erw. 2.5.4 ebenfalls die SKOS-RL im Kontext der Rückerstattung zitiert. Insofern neige ich dazu, dass die weitere Ausnahme der SKOS-RL in Bezug auf die SIL im Zusammenhang mit Integrationsmassnahmen ebenfalls für die Rückerstattung rechtmässig bezogener materielle Hilfe im Kanton Aargau gilt, dies auch deshalb, weil keine abweichende Regelung im kantonalen Recht festzustellen ist.
Die von der Gemeinde bezahlten Berufsschulkosten sind als situationsbedingte Leistungen für die Erstausbildung zu betrachten (vgl. Handbuch Soziales Ziff. 8.8.2).
Nach dem Gesagten erachte ich die Rückerstattung der Kosten für die Berufsschule als nicht zulässig. Ausschlaggebend ist Kap. E.3.1 der SKOS-RL, die für den Kanton Aargau verbindlich sind. Es könnte aber durchaus in Ihrem Fall § 20 Abs. 4 SPV AG zur Anwendung kommen, falls Ihre Klientin die Kosten bis zum 20. Altersjahr ausgerichtet bekam. Insoweit erübrigen sich Ausführungen zur Behindertengleichstellung.
Ich rate Ihnen, eine allfällige Rückerstattungsvereinbarung durch die Klientin nicht unterschreiben zu lassen oder im Falle einer Rückerstattungsverfügung diese anzufechten.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen Ihre Frage beantwortet zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder
Guten Tag Frau Schnyder
Herzlichen Dank für Ihre Ausführungen. Sie helfen uns sehr die Situation einzuordnen.
Es hat sich noch folgende Nachfrage ergeben:
Die betroffene Frau hat die Schuldanerkennung bereits unterschrieben, weil sie dachte, sie hätte keine andere Wahl und keine Probleme mit dem Sozialamt riskieren wollte.
Die Rückerstattungsfähigkeit wird erst im 2022 geprüft. Daher gibt es noch keine Rückerstattungsverfügung.
Was sind jetzt ihre Möglichkeiten die Schulden anzufechten? Kann Sie die Schuldanerkennung zurücknehmen? Oder jetzt eine Stellungnahme machen und dann bei der Überprüfung der Rückerstattungsfähigkeit eine mögliche Verfügung anfechten?
Besten Dank im Voraus für die Antwort!
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag Frau Hedinger
Nach § 21 Abs. 2 SHG AG ist die Gemeinde befugt, eine Vereinbarung über die Rückerstattung und der Modalitäten mit der rückerstattungspflichtigen Person zu treffen. Hingegen ist es nicht zulässig, wenn die Gemeinde mit der unterstützten Person Modalitäten vereinbart, die mit dem Gesetz nicht vereinbar ist. In diesem Fall könnte die unterstützte Person einen Motivirrtum geltend machen, der von der Gemeinde beachtet werden müsste. Diesem hat sich das Aargauer Verwaltungsgericht im Urteil AGVE 2006 47 S.237 gewidmet und in Erw. 3.3.2 Folgendes festgehalten:
«Weist ein verwaltungsrechtlicher Vertrag Willensmängel (Irrtum, Täuschung oder Drohung beim Abschluss) auf, so finden die Bestimmungen der Art. 23 ff. OR analog Anwendung (Ulrich Häfelin AGVE 2006 47 S.237 24.11.2017 / Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2002, Rz. 1118). Im Gegensatz zum Zivilrecht erweist sich das Vorliegen eines Motivirrtums (Art. 24 Abs. 2 OR) indessen regelmässig als rechtserheblich. Die Durchführung und der Vollzug des Gesetzes verlangen von der Verwaltung, dass die Fehler, die zu einer Diskrepanz zwischen Norm und Einzelakt führen, soweit möglich, korrigiert werden müssen.»
Das Urteil ist auch im Handbuch Soziales Kap. 20.6.1 (unten an der Seite) publiziert.
Aus diesem Grund empfehle ich Ihnen, gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, dass die Schuldanerkennung nicht gültig zustande gekommen ist, da sich die Klientin bei Unterzeichnung in einem Motivirrtum bezüglich der Rückerstattungspflicht befunden hat.
Ich hoffe, Ihnen hilft die ergänzende Antwort weiter.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder