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Rechtskonforme Umsetzung Melderecht – gesetzlicher Wohnsitz von volljährigen Personen

Veröffentlicht:
11.05.2023
Kanton:
Zürich
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Anderer
sehr geehrter Herr Vogel

Aufgrund der grossen Mobilität der Klienten auch über die Kantonsgrenze hinaus und der neuen Praxis gewisser Einwohnerdiensten der rechtskonformen Umsetzung des Melderechts stellt sich bei uns vermehrt die Frage nach der Auslegung der Bestimmungen von Art. 23 ZGB und vom Melderecht (insbesondere Registerharmonisierungsgesetz, RHG). Es besteht eine Unklarheit und Unsicherheit bezüglich der Wohnsitzfrage bei Personen, die über längere Zeit in Einrichtungen zu Sonderzwecken leben.

Empfehlung an die Thurgauer Gemeinden Rechtskonforme Umsetzung des Melderechts:

  • Betreutes Wohnen: Anmeldung mit Hauptwohnsitz ▪ Dies gilt, sobald die Voraussetzungen von § 4 ErG erfüllt sind: Absicht des dauernden Verbleibs, die bisherige Wohnsituation wird aufgegeben, der Aufenthalt dauert länger als drei Monate und der Lebensmittelpunkt wird ins Betreute Wohnen verlegt. ▪ Der Aufenthalt kann jedoch während 1-2 Jahren als Sonderzweck akzeptiert werden. Dauert der Aufenthalt länger, handelt es sich beim Aufenthalt um einen Lebenszweck, was eine Anmeldung mit Hauptwohnsitz zur Folge hat. Diese an das Zivilrecht anlehnende Regelung betrifft urteilsfähige Personen, die sich selbstbestimmt unter dem Zwang der Umstände im betreuten Wohnen aufhalten.
  • Anstalten ausschliesslich zu Sonderzwecken (Gefängnis, Psych. Klinik, Spital, Therapie/Entzug):
    Der vorübergehende Aufenthalt zu einem Sonderzweck oder eine Unterbringung durch Dritte begründen keinen neuen Hauptwohnsitz, sondern unter den Voraussetzungen von § 5 Abs. 2 ErG, einen Nebenwohnsitz. (Nebenwohnsitz, wenn Aufenthalt länger als drei Monate oder drei Monate innerhalb eines Jahres). Unterbringung in Gefängnissen werden nicht im Einwohnerregister geführt.

 

Fragen

  1. Dürfen das kantonale Recht in casu Art. 5 ErG vom Kanton Thurgau und die oben erwähnte Empfehlung an die Thurgauer Gemeinden Rechtskonforme Umsetzung des Melderechts: Erwachsene Personen mit Aufenthalt im Alters- oder Pflegeheim oder im Betreuten Wohnen weitergehende Bestimmungen resp. Präzisierungen (1-2 Jahre werden als Sonderzweck akzeptiert) aufstellen, als diese im ZGB enthalten sind?
  2.  Ist diese Unterscheidung bei Aufenthalten zu Sonderzweck für betreutes Wohnen und Anstalten ausschliesslich zum Sonderzweck korrekt?
  3. Oft wird in der Praxis auch nur auf das objektive Element und auf Vermutungen abgestellt, wie bspw., dass aufgrund der langen Wohndauer in der Anstalt davon auszugehen sei, dass eine Person die Eltern nicht mehr besuche und die Person ihren Lebensmittelpunkt an den Ort der Anstalt hin verlegt habe müsse.
    Oft werden das subjektive Element und der Umstand, ob eine Person urteilsfähig ist überhaupt nicht geprüft. Dabei scheint uns klar zu sein, dass die betroffenen Personen in den entsprechenden Anstalten nur aufgrund von einem Schwächezustand untergebracht worden sind und die Institution und die Region wieder verlassen würden, sobald der Schwächezustand wegfallen würde.
  4. Es ist sehr zeitintensiv sich mit den verschiedenen Einwohnerdiensten auseinanderzusetzen und zu belegen, dass die Person ihren Lebensmittelpunkt nicht an den Ort der Institution verlangt haben. Bei Art. 23 ZGB handelt es sich doch um eine widerlegbare Vermutung. Wäre es dann nicht an den Einwohnerdiensten diese Abklärungen zu treffen?

    Besten Dank und freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi

Entschuldigen Sie bitte die krankheitsbedingte verspätete Antwort.

Der melderechtliche Wohnsitz (registerrechtliche Eintrag) und der zivilrechtliche Wohnsitz sind strikte zu unterscheiden.

Der melderechtliche Wohnsitz wird im Einwohnerregister festgehalten und er richtet sich nach dem RHG und den kantonalen Bestimmungen. Möglich ist, dass ein melderechtlicher Wohnsitz fehlt, dann z.B. wenn jemand wegezogen ist und sich an keinem neuen Ort angemeldet hat.

Einen zivilrechtlichen Wohnsitz hat man hingegen immer, er entsteht von Gesetzes wegen. Art. 24 ZGB regelt, dass ein Wohnsitz nicht ohne Begründung eines neuen aufgegeben werden kann und wo sich der Wohnsitz bei Aufgabe eines Auslandwohnsitzes befindet: Entweder bleibt der einmal begründete Wohnsitz bestehen bis zum Erwerb eines neuen Wohnsitzes (Abs. 1.) oder der Aufenthaltsort gilt als Wohnsitz (Abs.2). Der zivilrechtliche Wohnsitz wird in keinem Register geführt, er ergibt sich direkt aus den Bestimmungen des ZGB und er ist unabhängig vom melderechtlichen Wohnsitz zu beurteilen.

Bei den Begriffen Hauptwohnsitz (Niederlassung) und Nebenwohnsitz (Aufenthalt) handelt sich um registerrechtliche Einheitsdefinitionen gemäss dem RHG und die Kantone können diese Begriffe nicht selbst definieren. Diese beiden Begriffe werden nach dem ZGB und der kantonalen Praxis bestimmt und insofern kommt dem Einwohnerregister eine Indizwirkung zu. Die Einwohnerämter haben die Art der melderechtlichen Wohnsitznahme zu prüfen, was bei Unklarheiten oder Streitfällen in der Tat zu einer detaillierten Prüfungspflicht führt.

Ist die betroffene Person oder eine zur Vertretung berechtigte Beistandsperson mit einem Eintrag im Einwohnerregister oder der Verweigerung eines solchen nicht einverstanden, kann eine rechtsmittelfähige Verfügung verlangt werden.

Für Behörden, wie die KESB, deren Zuständigkeit sich nach dem zivilrechtlichen Wohnsitz richtet (Art. 315 und 442 ZGB), ist der registerrechtliche Eintrag unmassgebend (BGE 133 V 309, E. 3.3). Sie müssen unabhängig vom registerrechtlichen Eintrag beurteilen, wo sich der zivilrechtliche Wohnsitz einer Person befindet; dem Eintrag ins Einwohnerregister kommt lediglich eine Indizwirkung zu (BGE 134 V 236, 240 f; BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 23).

Der Wohnsitz einer Person befindet sich nach Art. 23 Abs. 1 ZGB an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält; der Aufenthalt zum Zweck der Ausbildung oder die Unterbringung einer Person in einer Erziehungs- oder Pflegeeinrichtung, einem Spital oder einer Strafanstalt begründet für sich allein keinen Wohnsitz. Wer den Lebensmittelpunkt freiwillig und selbstbestimmt an einen Ort verlegt, begründet dort den zivilrechtlichen Wohnsitz. Die Person hält sich objektiv physisch an diesem Ort auf und hat subjektiv die Absicht dort dauernd zu verbleiben. Da der Wohnsitz nicht nur für die betroffene Person, sondern auch für Drittpersonen und das Gemeinwesen von Bedeutung ist, ist die innere Absicht des dauernden Verbleibs nur insoweit von Bedeutung, als sie nach aussen erkennbar geworden ist. Massgebend ist daher der Ort, wo sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 5 ff.). Die Absicht, einen Ort später zu verlassen, schliesst eine Wohnsitzbegründung nicht aus.

Wie in der Anfrage richtig erkannt, stellt Art. 23 ZGB eine widerlegbare Vermutung auf: Mit der Formulierung «für sich allein wird klargestellt, dass die Begründung eines neuen Wohnsitzes am Ort der Anstalt nicht per se ausgeschlossen ist, wenn der dortige Aufenthalt nicht nur dem Sonderzweck dient» (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 19a).

Bei Personen, die an einem Schwächezustand leiden und sich in Einrichtungen aufhalten, muss somit unterschieden werden, ob sie untergebracht wurden oder ob sie selbstbestimmt in die Einrichtung eingetreten sind.

Eine Unterbringung einer Person begründet keinen zivilrechtlichen Wohnsitz. Von einer Unterbringung spricht man, wenn die Person von Dritten und nicht aus eigenem Willen eingewiesen wird. Unerheblich ist, ob die die Person mit der Unterbringung einverstanden oder handlungsfähig ist. Die Unterbringung kann von Behörden oder Privaten erfolgen (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 19b).

Ein selbstbestimmter Eintritt einer urteilsfähigen volljährigen Person in eine Einrichtung begründet hingegen einen zivilrechtlichen Wohnsitz, wenn dadurch der Lebensmittelpunkt verlegt wird (z.B. Pflegeheim: BGE 137 III 593). Freiwillig ist auch ein Eintritt, wenn er vom "Zwang der Umstände", etwa Angewiesenheit auf Betreuung, finanzielle Gründe diktiert wird (BGE 137 III 593 E. 3.5 und 4.1, BGE 134 V 236, 240; 133 V 309, 312, BGE 127 V 237, 241: Denn es ist ohne Bedeutung, ob der Willensentschluss unter dem Zwang der Umstände erfolgt).

Des Weiteren gilt, dass urteilsunfähige Personen keinen selbständigen zivilrechtlichen Wohnsitz begründen können. Für die Beurteilung der Urteilsfähigkeit ist die Schwelle allerdings tief anzusetzen, da es weniger auf die subjektive Absicht, sondern auf den erkennbaren Mittelpunkt der Lebensbeziehungen ankommt (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 9). Sie behalten, nach Art. 24 Abs. 1 ZGB, bei einem Ortswechsel ihren bisherigen Wohnsitz bei.

Ihre Fragen lassen sich somit folgendermassen beantworten:

1. Dürfen das kantonale Recht in casu Art. 5 ErG vom Kanton Thurgau und die oben erwähnte Empfehlung an die Thurgauer Gemeinden Rechtskonforme Umsetzung des Melderechts: Erwachsene Personen mit Aufenthalt im Alters- oder Pflegeheim oder im Betreuten Wohnen weitergehende Bestimmungen resp. Präzisierungen (1-2 Jahre werden als Sonderzweck akzeptiert) aufstellen, als diese im ZGB enthalten sind?

Der registerrechtliche Wohnsitz und der zivilrechtliche Wohnsitz sind zu unterscheiden. Insofern spielt für die Beurteilung des zivilrechtlichen Wohnsitzes der Registereintrag keine Rolle, er hat lediglich Indizwirkung.

Verlegt eine urteilsfähige erwachsene Person freiwillig und selbstbestimmt ihren Lebensmittelpunkt in ein Alters- oder Pflegeheim oder betreutes Wohnen, begründet sie dort ihren Hauptwohnsitz (Niederlassung) nach § 4 ErG: Hauptwohnsitz im Sinne dieses Gesetzes hat eine Person in der Gemeinde, in der sie sich in der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, um dort den Mittelpunkt ihres Lebens zu begründen, der für Dritte erkennbar sein muss. Die erwähnten Empfehlungen sehen vor, dass beim betreuten Wohnen der Aufenthalt während 1-2 Jahren als Sonderzweck akzeptiert werden kann. Wahrscheinlich will man bei Personen, die sich noch nicht als Niedergelassene anmelden wollen oder die «instabil» leben, etwas flexibler bleiben. Eine Person kann aber verlangen, als Niedergelassene (Hauptwohnsitz) eingetragen zu werden, sobald die Voraussetzungen dazu erfüllt sind, das schliessen die Empfehlungen nicht aus; allenfalls ist der Rechtsmittelweg zu beschreiten.

Ohnehin kommt dieser Empfehlung weder Gesetzes- noch Verordnungsrang zu, sie will den Einwohnerämtern Anregungen zur Handhabung einer einheitlichen, gleichmässigen und sachgerechten Praxis geben.

2. Ist diese Unterscheidung bei Aufenthalten zu Sonderzweck für betreutes Wohnen und Anstalten ausschliesslich zum Sonderzweck korrekt?

In der Tat ist es fraglich, ob einem betreuten Wohnen ein «Sonderzweck» zukommt bzw. ob es unter den Begriff Anstalt fällt, oder ob es sich hier nicht ähnlich verhält, wie bei einem gewöhnlichen Altersheim. In der Regel dient der Aufenthalt in einem Altersheim, das nicht primär Pflege erbringt, keinem Sonderzweck, er dient vielmehr dazu, den Lebensabend dort zu verbringen (BSK ZGB I-Staehelin, Art. 23 N 19i). Zu bemerken ist, dass der Begriff Anstalt lediglich noch im RHG verwendet wird. Das ZGB verwendet in Art. 23 die Begriffe Erziehungs- und Pflegeeinrichtung, Spital oder Strafanstalt.

3. Oft wird in der Praxis auch nur auf das objektive Element und auf Vermutungen abgestellt, wie bspw., dass aufgrund der langen Wohndauer in der Anstalt davon auszugehen sei, dass eine Person die Eltern nicht mehr besuche und die Person ihren Lebensmittelpunkt an den Ort der Anstalt hin verlegt habe müsse. Oft werden das subjektive Element und der Umstand, ob eine Person urteilsfähig ist überhaupt nicht geprüft. Dabei scheint uns klar zu sein, dass die betroffenen Personen in den entsprechenden Anstalten nur aufgrund von einem Schwächezustand untergebracht worden sind und die Institution und die Region wieder verlassen würden, sobald der Schwächezustand wegfallen würde.

Hier verweise ich auf die bisherigen Ausführungen und fasse zusammen. Zu unterscheiden ist, ob es um die Klärung des registerrechtlichen oder zivilrechtlichen Wohnsitzes geht. Die Einwohnerämter haben die Art der melderechtlichen Wohnsitznahme zu prüfen, was bei Unklarheiten oder Streitfällen zu einer detaillierten Prüfungspflicht führt. Das Einwohneramt muss eine rechtsmittelfähige Verfügung erlassen, wenn man mit dem registerrechtlichen Eintrag nicht einverstanden ist oder eine solcher verweigert wird. Bei Urteilsunfähigkeit kann kein selbständiger zivilrechtlicher Wohnsitz begründet werden und melderechtlich ist kein Hauptwohnsitz (Niederlassung) möglich; ggf. ist über die Urteilsunfähigkeit Beweis zu führen. Der Schwächezustand ist nicht massgebend, ob man einen Wohnsitz begründet, es kommt darauf an, ob es sich um eine Unterbringung oder um einen selbstbestimmten und freiwilligen Eintritt handelt; Letzteres kann sich auch aus dem Zwang der Umstände ergeben. Auch schliesst die Absicht, einen Ort später wieder zu verlassen, eine Wohnsitzbegründung nicht aus. Behörden, die ihre Zuständigkeit an den zivilrechtlichen Wohnsitz anknüpfen, müssen diesen unabhängig vom melderechtlichen Wohnsitz beurteilen.

Ich hoffe, die Ausführungen sind hilfreich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 27.5.2023

Karin Anderer