Mein Klient aus Syrien (B Resettlement) wurde in Syrien gefoltert, bezieht jedoch in der CH keine IV. In der Gemeinde, wo er wohnt, beginnt er nun ein weiteres Praktikum im Haus- und Werksdienst. Die Gemeinde wird ihn jedoch danach nicht mehr anstellen, da Kettenverträge nicht erlaubt sind. Mein Klient liebt seine Arbeit für die Gemeinde und er ist überall bekannt und wird positiv wahrgenommen. Jedoch ist er nicht immer pünktlich oder er muss aufgrund seiner Rückenschmerzen seine Arbeit verschieben. Im 1. Arbeitsmarkt wird er nicht Fuss fassen können. Die Gemeinde würde ihn gerne weiter beschäftigen. Sie möchte jedoch nicht das Risiko eingehen, für ihn Lohnfortzahlungen bezahlen zu müssen (Unfall, Krankheit). Die Gemeinde würde ihm keinen Mindestlohn bezahlen, da seine Arbeitsleistung/-verhalten nicht einer Person entspricht, welche im 1. Arbeitsmarkt tätig ist. Ich könnte mit ihm Arbeitsintegrationsprogramme oder eine Beschäftigung prüfen. Für meinen Klienten ist jedoch die Arbeit in der Gemeinde die optimale Lösung bezüglich sozialer Integration, welche wir versuchen sollten, aufrecht zu erhalten. Gibt es ein rechtliches Arbeitsverhältnis, welches die Anstellung in diesem Setting ermöglicht?
Besten Dank für Ihre fachliche Einschätzung. Bei Fragen können Sie sich ab dem 13. Dezember gerne an mich wenden.
Frage beantwortet am
Kurt Pärli
Expert*in Arbeitsrecht
Guten Tag
Gerne beantworte ich Ihre Frage. Gemäss Ihren Angaben kommt ihr Klient für allfällige Leistungen der Invalidenversicherung nicht in Frage. Ich gehe davon aus, dass seine gesundheitlichen Schwierigkeiten einer Erwerbstätigkeit nicht entgegenstehen. Auch ist, so nehme ich an, die Option "Arbeitsmarktliche Massnahmen" der Arbeitslosenversicherung geprüft worden bzw solche Scheitern am Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, prüft die Gemeinde nun eine Beschäftigung ihres Klienten im Rahmen eines Arbeitsintegrationsprogramms. Sie fragen nun, welche Risiken eine solche Beschäftigung für die Gemeinde nach sich zieht.
Zur Qualifikation eines solchen Beschäftigungsverhältnisses: Ich beginne einmal damit, welches Verhältnis nicht vorliegt. Wenn für ihren Klienten nicht eine normale Stelle in der Gemeinde geschaffen wird, so liegt sich kein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis vor, d.h., die kommunalen (oder ggf. kantonalen) personalrechtlichen Bestimmungen finden keine Anwendung.
Was liegt aber dann vor? Die typische Juristen/innenantwort lautet "Es kommt darauf an....".
Es kommt tatsächlich darauf an, welche Leistungen Ihr Klient im Rahmen des Beschäftigungs- bzw. Integrationsprogramms erbringt. Wenn die Beschäftigung (fast) ausschliesslich therapeutischen Charakter hat, dann ist nicht von einem Arbeitsvertrag nach den Art. 319 ff OR auszugehen. Diesfalls könnte man den Vertrag als Auftrag oder als Vertrag sui generis qualifizieren. ein Vertrag also mit Rechten und Pflichten, was aber nicht bedeuten würde, dass ein Arbeitsvertrag und damit verbunde Lohnfortzahlung bei Krankheit, Kündigungsschutz usw. vorliegt.
Wenn jedoch die erbrachte Arbeitsleistung für die Gemeinde oder den Träger des Integrationsprogramms einen wirtschaftlichen Mehrwert hervorbringt, dann ist von einem Arbeitsvertrag nach Art. 319 OR auszugehen. Das bedeutet, dass die Schutzbestimmungen betreffend Lohn bei Krankheit und Kündigungsschutz usw. grundsätzlich Anwendung finden. Bezüglich Lohn gilt allerdings die Vertragsfreiheit, d.h., die Lohnhöhe kann frei vereinbart werden, ein den Leistungen entsprechender Lohn ist also zulässig. Im Kanton Luzern (ich gehe davon aus, der Sachverhalt spielt sich im Kanton Luzern ab) gilt ein kantonaler Mindestlohn. Und, auch in Kantonen mit kantonalem Mindestlohn, z.B. Basel-Stadt oder Neuenburg, sind Mindestlöhne für Anstellungen in Beschäftigungsprogrammen nicht anzuwenden. Zusammenfassend: Der Abschluss eines Arbeitsvertrages mit dem Klienten bringt für die Gemeinde nicht entscheidende Nachteile.
Soweit meine Angaben zur vertragsrechtlichen Situation. Nun noch ein paar Informationen zu den sozialversicherungsrechtlichen Aspekten der Thematik. Es geht hier um die Frage der sozialversicherungsrechtlichen Bedeutung des Einkommens, das im Integrationsprogramm als Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung erzielt wird. Soweit es sich bei der Tätigkeit um eine Arbeit mit Erwerbscharakter handelt, dann ist das Einkommen massgebender Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung und führt dazu, dass die Beiträge an die AHV/IV/EO und ALV entrichtet werden müssen. Zudem ist zwingend eine Unfallversicherung abzuschliessen (nach UVG). Möglich ist natürlich auch, dass nicht der ganze Sozialhilfebetrag, den Ihr Klient erhält, als massgebender Lohn gilt, sondern nur derjenige Teil, der als Gegenwert für die erbrachte Leistung zu bezeichnen ist. Diesfalls sind die AHV/IV/EO- und ALV-Beiträge nur auf diesem Teil geschuldet. Die Unfallversicherung nach UVG nimmt eine Sonderstellung ein. Eine Unfallversicherung ist selbst dann erforderlich, wenn kein AHV-pflichtiger Lohn ausgerichtet wird. Ein gesetzlicher Unfallversicherungsschutz für Klienten/innen in Integrationsprogrammen ist durchaus auch im Interesse der Gemeinde, denn auf diese Weise sind die Klienten bei Unfällen auch entsprechend versichert.
Genügen Ihnen diese Angaben?
Mit Dank für die Kenntnisnahme und freundlichen Grüssen
Kurt Pärli
Siehe zum Ganzen ausführlich: Meier Anne/Pärli Kurt, Sozialversicherungsrechtliche Fragen bei Beschäftigungsverhältnissen unter sozialhilferechtlichen Bedingungen, SZS 2018 S. 4 ff., 19). Zum Thema Unfallversicherungsschutz folgender Auszug aus diesem Beitrag (ohne Fussnoten):
(…) Das Bundesgericht bestätigt in mehreren Leitentscheiden den breiten Anwendungsbereich des UVG. In BGE 133 V 161 entschied es, dass bei einem Arbeitslosen, der aus eigener Initiative probeweise in einem Betrieb tätig ist, der Unfallversicherer dieses Betriebs und nicht die Suva (die für die Versicherung der Arbeitslosen zuständig ist) für die Leistungen aufkommen muss. Nicht relevant war, dass Lohn weder vereinbart noch bezahlt wurde. Im Urteil 8C_503/2011 vom 8. November 2011 präzisierte das Bundesgericht, dass Personen, welche ohne Lohn einen Arbeitsversuch bei einem Arbeitgeber absolvieren, dann über diesen Betrieb gemäss UVG versichert sind, wenn ein wirtschaftliches Interesse des Arbeitgebers an der Arbeitsleistung besteht. Von einem solchen ist gemäss der Empfehlung im Regelfall auszugehen. Ausgenommen sind Betriebe, deren Geschäftstätigkeit es ist, berufliche Abklärungen vorzunehmen.
Blosse Handreichungen genügen im Gegensatz dazu für eine UVG-Deckung nicht. Wird jemand nur aus Gefälligkeit kurzfristig für einen andern tätig, ist er deswegen selbst dann nicht obligatorisch versichert, wenn er dafür in irgendeiner Form entschädigt wird: «Als Arbeitnehmer gemäss UVG ist zu bezeichnen, wer um des Erwerbes oder der Ausbildung willen für einen Arbeitgeber, mehr oder weniger untergeordnet, dauernd oder vorübergehend tätig ist, ohne hierbei ein eigenes wirtschaftliches Risiko tragen zu müssen.»
Vor Kurzem hat sich das Bundesgericht über die betriebliche UVG-Deckung eines nicht entlohnten Arbeitseinsatzes eines Sozialhilfeempfängers bei einem Arbeitgeber im ersten Arbeitsmarkt geäussert. Im Auftrag des Sozialamtes einer Gemeinde des Kantons St. Gallen erfolgte ab dem 1. Juli 2013 ein Arbeitseinsatz im Sinne eines nicht entlohnten Praktikums der Sozialhilfeempfängerin A. für Reinigungsarbeiten bei einer Firma C. Am 8. Juli 2014 meldete die C. GmbH der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), dass A. dabei am 2. August 2013 gestolpert sei und sich eine Bänderverletzung zugezogen habe.
Das Bundesgericht hielt fest, dass die Sozialhilfeempfängerin im Rahmen eines Arbeitsversuchs im Sinne der Empfehlung Nr. 01/2007 bei der C. GmbH Reinigungsarbeiten ausgeführt hatte. Die Arbeitgeberin hatte für die geleistete Arbeit weder A. einen Lohn ausgerichtet noch dem Sozialamt ein Entgelt bezahlt. Es lag kein schriftlicher Arbeitsvertrag für den Unfallzeitpunkt (2. August 2013) vor. Im Dezember 2013 hatten A., das Sozialamt und die C. GmbH jedoch eine Vereinbarung für ein «Ausbildungspraktikum» ab dem 1. Dezember 2013 bis zum 28. Februar 2014 abgeschlossen. Dem «Praktikumszeugnis» der C. GmbH vom 30. September 2014 war zu entnehmen, dass die Parteien bereits zuvor eine Vereinbarung mit Beschäftigungsbeginn am 1. Juli 2013 für die Dauer von drei Monaten getroffen hatten. A. wurde in dieser Zeit vom Sozialamt an den Betrieb verwiesen und weiterhin vom Sozialamt finanziell unterstützt, weshalb das kantonale Gericht von einer Versicherungsdeckung im Rahmen eines Arbeitsversuchs im Sinne der Empfehlung Nr. 01/2007 ausging.
Das Bundesgericht hat hier die Frage, ob die Empfehlung Nr. 01/2007 auf den vorliegenden «Arbeitsversuch» Anwendung findet, offengelassen. Es wurde Folgendes festgehalten: «Auch kann angesichts der Beschäftigungsdauer ein wirtschaftliches Interesse der Firma nicht ernsthaft bezweifelt werden. Nach Art. 1a Abs. 1 UVG (in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2016 gültigen Fassung; seit 1. Januar 2017: Art. 1a Abs. 1 lit. a UVG) sind die in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer, einschliesslich der Heimarbeiter, Lehrlinge, Praktikanten, Volontäre sowie der in Lehr- oder Invalidenwerkstätten tätigen Personen, obligatorisch nach den Bestimmungen des UVG versichert. Unter das Versicherungsobligatorium fällt nach der Rechtsprechung, wer um des Erwerbs oder der Ausbildung willen für einen Arbeitgeber, mehr oder weniger untergeordnet, dauernd oder vorübergehend tätig ist, ohne hierbei ein eigenes wirtschaftliches Risiko tragen zu müssen. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag ist nicht erforderlich. Bei Ausbildungsverhältnissen wird eine Lohnvereinbarung beziehungsweise Erwerbsabsicht nicht vorausgesetzt. Eine Versicherungsdeckung hat die Rechtsprechung insbesondere etwa angenommen in den Fällen einer Medizinstudentin im Einzeltutoriat in einer Arztpraxis (BGE 141 V 313), der Volontärin an einer Universität, die ohne Arbeitsvertrag und Lohnvereinbarung für ein Forschungsprojekt in Afrika tätig war (SZS 2015 S. 144, 8C_183/2014), des Schnupperlehrlings bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) ohne Lohnanspruch (BGE 124 V 301) oder der Schülerin, welche in ihrer Freizeit regelmässig in einem Reitstall Stallarbeiten verrichtete und Gelegenheit zum Reiten erhielt (BGE 115 V 55; vgl. zum Arbeitsversuch in einem Restaurant SVR 2012 UV Nr. 9 S. 32, 8C_503/2011).»
Im vorliegendem Fall hielt das Bundesgericht fest, dass die C. GmbH, die Sozialhilfeempfängerin und das Sozialamt eine «Vereinbarung für Ausbildungspraktikum» abgeschlossen hatten: «Dass dieser schriftliche Vertrag erst für die Zeit ab dem 1. Dezember 2013 galt, schliesst eine Versicherungsdeckung nach der Rechtsprechung nicht aus. Dem Praktikumszeugnis vom 30. September 2014 ist zu entnehmen, dass A. schon ab dem 1. Juli 2013 bei der C. GmbH eingesetzt wurde. Ziel des Praktikums war es, wie in der Vereinbarung festgehalten, Neues zu lernen. A. sollte bei der Unterhaltsreinigung von Gebäuden sowie bei Umbau- und Rohbaureinigungen eingesetzt werden und sich Fachkenntnisse über die professionelle Reinigung aneignen. Im Praktikumszeugnis bestätigte die C. GmbH, es sei das Ziel gewesen, theoretische und praktische Kenntnisse im Reinigungsbereich zu erlangen und zu erweitern. A. habe viele Erfahrungen sammeln können wie beispielsweise das Arbeiten auf der Leiter und auf einem Gerüst, die professionelle Erledigung der ihr aufgetragenen Arbeiten und den sachgemässen Umgang mit dem Material.»
Zu Recht kam das Bundesgericht zum Schluss, dass die Tätigkeit von A. bei der C. GmbH somit einer praktischen Ausbildung diente: «Dass die C. GmbH nach der (mündlichen) Vereinbarung keinen Lohn schuldete, schliesst nach der Rechtsprechung eine obligatorische Versicherungsdeckung bei Ausbildungsverhältnissen nicht aus. Der hier zu beurteilende Arbeitsversuch ist als Praktikum im Sinne des UVG zu qualifizieren.»
d) Ergebnis
Es ergibt sich aus dieser Analyse, dass Sozialhilfebezüger/innen, die an einem Beschäftigungsprogramm teilnehmen, vom «Arbeitgeber» gegen Unfälle obligatorisch versichert werden müssen bzw. von Gesetzes wegen versichert sind. In diesem Sinne ist z. B. die Regelung des Kantons Neuenburg gesetzeswidrig, soweit sie die Pflicht der Sozialhilfebezüger/innen vorsieht, das Unfallrisiko mit der obligatorischen sozialen Krankenversicherung zu schliessen, obwohl die konkrete Beschäftigung im Sinne der oben vorgestellten Bundesgerichtsentscheide dem UVG untersteht. Wichtig ist dies namentlich, weil die Unfallversicherung nach UVG – im Unterschied zur sozialen Krankenversicherung – auch Leistungen im Invaliditätsfall und eine Integritätsentschädigung vorsieht und zudem für die Heilbehandlung der Versicherten keine Franchisen und keine Selbstbehalte zu tragen sind.
Gemäss Art. 73 UVG erbringt die Ersatzkasse die gesetzlichen Versicherungsleistungen an verunfallte Arbeitnehmer, für deren Versicherung nicht die Suva zuständig ist und die von ihrem Arbeitgeber nicht versichert worden sind. Die Kasse zieht vom säumigen Arbeitgeber die geschuldeten Ersatzprämien ein. Die Suva oder die Ersatzkasse erhebt vom Arbeitgeber, der seine Arbeitnehmer nicht versichert, die Eröffnung des Betriebes der Suva nicht gemeldet oder sich sonst wie der Prämienpflicht entzogen hat, für die Dauer der Säumnis, höchstens aber für fünf Jahre eine Ersatzprämie in der Höhe des geschuldeten Prämienbetrages. Der Betrag wird verdoppelt, wenn sich der Arbeitgeber in unentschuldbarer Weise der Versicherungs- oder Prämienpflicht entzogen hat. Kommt der Arbeitgeber seinen Pflichten wiederholt nicht nach, so kann eine Ersatzprämie in der drei- bis zehnfachen Höhe des Prämienbetrags erhoben werden. Ist als Ersatzprämie der einfache Prämienbetrag zu entrichten, werden Verzugszinsen berechnet. Ersatzprämien dürfen dem Arbeitnehmer nicht vom Lohn abgezogen werden (Art. 95 Abs. 1 UVG).