Sehr geehrte Frau Anderer
Wir als Institution haben die konfessionelle Neutralität im Leitbild fest verankert. Nun haben Kinder wie auch Erwachsene haben die Freiheit, ihre Religion zu wählen und sie zu praktizieren. Dieses Recht wird geschützt durch den Artikel 14 der UN-Kinderrechtskonvention: „Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit". Welche Rechte haben in diesem Kontext die Eltern? Dürfen sie das urteilsunfähige Kind zu einem konfessionellen Anlass (Z.B. Kommunionunterricht) etc. zwingen? Welche Rolle spielt dabei die Kindsschutzmassnahme? Darf das Personal auf Wunsch eines Kindes mit diesem beten? Wo sind die Grenzen zwischen dem Recht auf freie Religionsausübung und Manipulation einzelner Mitarbeiter? Darf ein Mitarbeiter im Rahmen der freien Religionsausübung in der Institution beten?
Vielen Dank im Voraus.
Freundliche Grüsse
J.P
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrter J.P.
Art. 303 ZGB legt fest, dass die Eltern über die religiöse Erziehung des Kindes verfügen. Die Eltern dürfen innerhalb der Schranken der elterlichen Sorge frei über die religiöse Erziehung verfügen, wie es ihrer persönlichen Überzeugung entspricht. Sie entscheiden auch frei, ob das Kind überhaupt in einer Religion erzogen werden soll oder gerade nicht. Es gibt keine Pflicht der Eltern zur religiösen Erziehung (Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 303 ZGB N 15). Hat ein Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt, so entscheidet es selbständig über sein religiöses Bekenntnis. Das bedeutet, dass Personen ab dem 16. Geburtstag selbst über ihre Religion entscheiden, ein Kind kann dann z.B. aus der von den Eltern gewählten Glaubensgemeinschaft austreten oder auf die Ausübung religiöser Handlungen verzichten (CHK-Breitschmid, 3. Auflage 2016, ZGB 303 N 4).
Generell gilt, dass die Eltern bei der Ausübung der elterlichen Sorge nach Art. 301 ZGB das Kindeswohl im Blick haben, dem Kind die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung gewähren und in wichtigen Angelegenheiten, soweit tunlich, auf seine Meinung Rücksicht nehmen müssen. Mit anderen Worten: Bei der religiösen Erziehung ist das eigene religiöse Bewusstsein des Kindes mit zunehmenden Alter zu respektieren und das Kindeswohl ist zu achten (CHK-Breitschmid, 3. Auflage 2016, ZGB 303 N 4).
Geht es um landeskirchliche Segnungsakte wie Firmung und Konfirmation, ist die Altersgrenze eher hoch angesetzt. Hier spielt die Urteilsfähigkeit des Kindes bei Fragen der religiösen Erziehung eine wichtige Rolle. Seine eigenen Überzeugungen, auch wenn es noch nicht 16 Jahre alt ist, sind als Ausfluss des Persönlichkeitsrechts von den Eltern zu respektieren (Art. 301 ZGB) und entsprechende religiöse Entscheidungen (z.B. Konfessionswechsel) oder Handlungen (z.B. Konfirmation, Firmung, andere Sakramente) bedürfen des Einverständnisses des Kindes (BK-Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 303 ZGB N 32).
Religiösen Handlungen, die zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen, sind mit Kindesschutzmassnahmen zu begegnen (Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 303 ZGB N 19 f.).
Wenn Kinder (in dieser Frage nur unter 16 Jahren) in Ihrer Institution aufgenommen werden, müssen Sie sich über die gesetzliche Vertretung kundig machen. Sie schliessen den Heimvertrag mit den Eltern, mit einer Vormundin oder mit der KESB ab. Zum Inhalt des Heimvertrags gehört einerseits die religiöse Ausrichtung der Institution und wie sie mit der Religion umgeht. Andererseits ist mit den Vertragspartnern die religiöse Erziehung des Kindes zu klären. Das bedeutet, dass Eltern, sofern sie über diesen Teil der elterlichen Sorge verfügen, über die religiöse Erziehung des Kindes, im Rahmen der soeben erwähnten Schranken, bestimmen können.
Dass Kindern die Ausübung von religiösen Handlungen, wie das Beten, in der Institution ermöglicht wird ist, das ist das eine. Ob aber bei der Ausübung von religiösen Handlungen das Personal eine (pro)aktive Rolle einnimmt, das ist eine andere Frage. Hier muss die Heimleitung gestützt auf ihr Konzept entscheiden, wie sie damit umgeht. Das Leitbild, das eine konfessionelle Neutralität verankert hat, ist Teil des Betreuungsvertrages. Wenn nun das Personal religiöse Handlungen mit Kindern vornimmt, so stellt das eine Vertragsverletzung dar. Die Vertragspartner dürfen darauf vertrauen, dass diese Neutralität eingehalten wird, dies ist ja vielleicht gerade der Grund, dass ein Kind dort platziert wurde. Den Vertragspartnern ist von Beginn an die religiöse Ausrichtung der Institution klar.
Das Arbeitsrecht gewährt keinen rechtlichen Anspruch auf eine Religionsausübung am Arbeitsplatz und während der Arbeitszeit. Solche Bedürfnisse lassen sich aber pragmatisch regeln, z.B. mit Pausen, Freitage bei religiösen Feiertagen usw. Was sicher nicht geht ist, dass Mitarbeiter ihre Religion mit den Kindern praktizieren, diese beeinflussen oder manipulieren. Die Mitarbeiter sind an die Vorgaben und Ausrichtung der Institution sowie an den Arbeitsvertrag gebunden. Hier hat die Heimleitung dafür zu sorgen, dass das nicht passiert.
Ich hoffe, die Ausführungen helfen Ihnen weiter.
Freundliche Grüsse
Karin Anderer
Luzern, 10.1.2020