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RAV Vorleistungspflicht bei vorliegendem VA Bericht der Krankentaggeldversicherung

Veröffentlicht:
23.09.2021
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Grüezi miteinander, ich habe folgende Frage im Kontext Betriebliche Sozialarbeit:

Eine seit längerem krank geschriebene Mitarbeiterin wird auf Basis eines vertrauensärztlichen Gutachtens der Taggeldversicherung ab Oktober 21 Teil-Arbeitsfähig (mit Steigerungsschritten) geschrieben. Da ihr Behandlungsteam anderer Meinung ist und die betroffene Mitarbeiterin sich ebenfalls nicht zu den beschriebenen Prozentsätzen arbeitsfähig sieht, wurde das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Sperrfrist per 31.12.2021 gekündigt. Die IV-Anmeldung läuft, es geht Richtung Vorleistungspflicht RAV.

Hier wäre ja dann gemäss einer Rückmeldung von der Arbeitslosenkasse die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit per 01.01.2022 relevant. Und je nach Prozentgrad kommt es entweder zur einer 50/50-Splitzahlung zwischen den beiden Taggeldversicherungen RAV/KTV oder zu einer vollen, weiteren Zuständigkeit der Krankentaggeldversicherung (ab 51% AUF). 

Gibt es hier erneut das Risiko, dass die KTV nicht mitmacht, sollten die Gutachter der KTV eine andere versicherungsmedizinische Einschätzung haben als die Arztzeugnisse des Behandlungsteams es belegen? Kann es also sein, dass hier eine Zahlungslücke entsteht? Was empfehlen Sie diesbezüglich bei den Angaben der Arbeitsfähigkeit gegenüber dem RAV? Dem Behandlungsteam folgen, oder den Angaben des VA-Untersuchs der Taggeldversicherung?

Merci für Ihre Einschätzung und freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrte Frau R.

 

Die Hintergründe der Antwort auf Ihre Frage sind ziemlich komplex, weswegen die Abklärung etwas mehr Zeit als üblich benötigt hat. Ich werde im Folgenden die Hintergründe, zur Verwendung in Ihrer Argumentation kurz darstellen, um daraus dann die Antwort auf Ihre Frage zu erläutern im Fazit:

 

a) Rechtlich geht es bei Ihrer Anfrage darum, ob und inwieweit im Zeitpunkt des Beginns der Arbeitslosigkeit die ALV Leistungen bei vorübergehender fehlender oder verminderter Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 28 AVIG leisten muss.

Und inwieweit dann die Krankentaggeldversicherung Leistungen gewähren muss im Umfang der bestehenden ArbeitsUNfähigkeit.

Es handelt sich also um eine Koordinationsfrage, die bzgl. der Leistungspflicht der Arbeitslosenkasse im AVIG und im KVG geregelt sind. Die Pflicht zur Leistung der Arbeitslosenversicherung richtet sich nach Art. 28 Abs. 1 bis 5 AVIG. Die Leistungspflicht der Krankentaggeldversicherung richtet sich nach Art. 73 KVG, wobei diese Norm auch für privatrechtliche Krankentaggeldversicherungen analog gilt (Art. 100 Abs. 2 VVG).

 

b) Ich gehe vom Sachverhalt her davon aus, dass in Ihrem Fall eine Taggeldversicherung nach VVG besteht, und diese grundsätzlich im vorliegenden Fall auch leistungspflichtig sein wird für die bestehende Arbeitsunfähigkeit über den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hinaus. (Als Hinweis: bei gewissen Taggeldversicherungen ist nach deren Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) hierfür der Übertritt in die Einzelversicherung notwendig, das sollte überprüft und gegebenenfalls der Mitarbeitenden mitgeteilt werden

 

c) Für die Arbeitslosenversicherung gilt, dass diese leistungspflichtig ist bei vorübergehender ganzer oder verminderter Arbeitsunfähigkeit. Es ist ein volles Taggeld zu gewähren bis zum 30. Tag nach Beginn der ganzen oder teilweisen Arbeitsunfähigkeit. Insg. werden innerhalbe der Rahmenfrist höchstens 44 Taggelder gewährt (z.B. relevant bei einer zweiten Erkrankung); siehe Art. 28 Abs. 1 AVIG. Die Arbeitsunfähigkeit muss innert einer Woche nach deren Beginn mitgeteilt werden (Art. 42 Abs. 1 AVIV).

 

Taggelder der Krankentaggeldversicherung werden von der Arbeitslosenentschädigung abgezogen. (Art. 28 Abs. 2 AVIG).

Wenn Arbeitslose ihren Anspruch von 30 Taggeldern der ALV  (bzw. 44 Tagen insg.) ausgeschöpft haben, aber weiterhin vorübergehend arbeitsunfähig sind und Leistungen einer Krankentaggeldversicherung beziehen (aber weiterhin vermittelbar sind und die weiteren Anspruchsvoraussetzungen erfüllen), so besteht folgender Anspruch gegenüber der ALV: Bei Arbeitsfähigkeit von mind. 75%: ein volles Taggeld; bei Arbeitsfähigkeit von 50% bis 74%: ein Taggeld von 50%.

 

d) Für die Krankentaggeldversicherung gilt gemäss Art. 73 KVG in dieser Konstellation, dass Arbeitslose mit einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als 50% das volle Taggeld erhalten. Bei einer Arbeitsunfähigkeit von 25% bis 50% wird das halbe Taggeld gewährt, wenn der Versicherer gemäss seinen AVB bereits bei einem entsprechenden Grad von Arbeitsunfähigkeit Leistungen gewährt.

 

e) Die entscheidende Frage ist, sowohl für die KTV und ihre Leistungspflicht als auch für die ALV und ihre Leistungspflicht, ob eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG vorliegt.

Für die Leistungspflicht der ALV nach Art. 28 AVIG ist im Weiteren entscheidend, ob die (teilweise) Arbeitsunfähigkeit vorübergehender Natur ist. Ist sie prognostisch gesehen fortdauernd, so wäre die Vermittlungsfähigkeit nicht mehr bestehend. Und es bestünde keine Leistungspflicht der ALV. Ausser es wäre gleichzeitig eine Anmeldung bei der IV (oder einer anderen Versicherung erfolgt für Leistungen wegen Invalidität. Dann entsteht bei einer Restarbeitsfähigkeit von mindestens 20% eine Vorleistungspflicht der ALV. Siehe Art. 15 AVIG und Art. 15 AVIV.

 

f) Die Frage der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bzw. der Arbeitsfähigkeit ist abhängig von einer entsprechenden medizinischen Diagnostik und Beurteilung der Auswirkungen einer Gesundheitsschädigung.

Die ALV richtet ihre Einschätzung gemäss Art. 28 Abs. 5 AVIG auf ein ärztliches Zeugnis. Wegen der Untersuchungsmaxime kann aber auch die Einschätzung einer anderen Versicherung, etwa des Vertrauensarztes der KTV einbezogen werden. Möglich ist es auch, dass die Kasse (oder die kantonale Amtsstelle (KAST) eine eigene vertrauensärztliche Untersuchung anordnet).

Es ist im vorliegenden Fall sehr ratsam, dass die versicherte Person ein eigenes am besten detailliertes Arztzeugnis einreicht, welches genau über Art und Umfang der Arbeitsunfähigkeit Auskunft gibt. Siehe dazu die Vorlagen unter: https://www.swiss-insurance-medicine.ch/de/fachwissen-und-tools/arbeitsunfahigkeit/sim-arbeitsfahigkeitszeugnis.

 

g) Massgebend für das Mass der Arbeitsunfähigkeit ist dabei im Prinzip die frühere Tätigkeit. Wenn aber der Versicherte wegen der Schadenminderungspflicht eh verpflichtet ist, eine andere Funktion zu suchen, so bemisst sich die Arbeitsunfähigkeit für die Krankentaggeldversicherung nach den Regeln für die Bemessung der Arbeitsunfähigkeit nach einem Berufswechsel. Das bedeutet, dass ein Einkommensvergleich notwendig ist zwischen dem Ausfall für die bisherige Tätigkeit und dem möglichen Erwerb bei der Verweistätigkeit. (vgl. Urteil des Bundesgerichts K 149/00 vom 28.3.2002 E. 3f und BGE 133 III 527).

 

Fazit:

1. Bei der Anmeldung der ALV sind die Einschätzung der behandelnden Ärzte wie dargestellt unbedingt in Form eines detaillierten Arztzeugnisses einzureichen (siehe oben unter Buchstabe f). Eventualiter kann die ergänzende Einreichung einer eigens beauftragten spezialärztlichen Beurteilung ratsam sein. Wichtig ist das Mass der Arbeitsunfähigkeit, aber auch eine Prognose über die Dauer.

Gleichzeitig ist Transparenz zu halten zur aktuellen Einschätzung der Krankentaggeldversicherung und einer entsprechenden offenen Abklärung (siehe dazu unter unter Ziff. 2).

Soweit die ärztliche Abklärung ergibt, dass die bestehende Arbeitsunfähigkeit vorübergehenden Charakter hat, so hat die ALV von Beginn weg ein volles Taggeld zu gewähren (Art. 28 Abs. 1 und 2 AVIG). Allerdings werden die Taggelder (auch) der VVG-Krankentaggeldversicherung, die von dieser bereits gewährt werden, angerechnet und das ALV-Taggeld entsprechend gekürzt. Und falls die Krankentaggelder später für den entsprechenden Zeitraum rückwirkend gewährt werden, ist eine Rückforderung nach Art. 95 Abs. 1 AVIG möglich. Insoweit sind die ALV-Taggelder subsidiär (BGE 128 V 176; BGE 142 V 448; BGE 144 III 136).

 

2.  Die Krankentaggeldversicherung wird wohl auf ihre eigene gemäss Sachverhalt vorliegende vertrauensärztliche Untersuchung abstellen. Es ist im vorliegenden Fall, wo an der Richtigkeit der Einschätzung der KTV zu zweifeln ist, auch mit Blick auf den Zeitraum der Arbeitslosigkeit ratsam, gegenüber der KTV deren medizinische Einschätzung in Frage zu stellen und andere Beweismittel möglichst rasch einzureichen. Namentlich das bereits genannte detaillierte Arztzeugnis der behandelnden Ärzte. Damit kann von der KTV verlangt werden, dass die Leistungen entsprechend der Arbeitsunfähigkeit nach Ausweis des detaillierten Arztzeugnisses gewährt werden, oder eventualiter, dass entsprechende weitere medizinische Abklärungen vorzunehmen sind und die entsprechenden Leistungen zu gewähren sind. Im Zweifel ist hier spezialisierte Unterstützung anzuraten, um die Ansprüche gegenüber der KTV geltend zu machen, notfalls ist eine Klage zu prüfen.

 

3. Das ist vor allem auch wichtig für den Zeitraum, wo die 30tägigen Ansprüche gegenüber der ALV ausgeschöpft sind, falls dann noch immer von einer vorübergehenden (und nicht wohl über ein Jahr dauernden Arbeitsunfähigkeit auszugehen sein sollte: Dann gilt wie dargestellt, dass bei einer Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit (AUF) von bis zu 25% ein volles Taggeld der ALV gewährt wird. Bei einer AUF von mehr als 50% erhält der Versicherte das volle Taggeld der Krankentaggeldversicherung, aber keine Arbeitslosenentschädigung. Bei einer Arbeitsunfähigkeit von 25% bis 50% ist je ein halbes Taggeld der ALV und der KTV geschuldet.

Es ist in der Begleitung des Versicherten darauf zu achten, dass die Einschätzung der AUF von KTV und ALV gleich beurteilt werden. Die ALV hat gemäss Art. 28 Abs. 1 ein Taggeld zu gewähren, soweit die KTV keine Leistungspflicht vorsieht.

 

4. Es kann im vorliegenden Fall auch gut sein, dass aufgrund der medizinischen Akten von einer dauernden, und nicht einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit ausgegangen wird. Dann wäre hier rasch eine Anmeldung bei der IV notwendig und die Einreichung eines (am besten detaillierten) Arztzeugnisses bei der ALV, welches eine Arbeitsfähigkeit von mindestens 20 % in einer angepassten Tätigkeit ausweist.

So kann die Vorleistungspflicht der ALV mit einem vollen Taggeld ausgewiesen werden.

Für das Vorgehen gegenüber der KTV ändert sich insoweit nichts zum unter Ziff. 2 genannten Vorgehen. Auch die Anrechnung erfolgt gleichermassen (BGE 144 III 136 E.4).

 

Ich hoffe, das dient Ihnen.

 

Peter Mösch Payot