Guten Tag
Herr X. mit Staatsbürgerschaft TUN (Tunesien) und ca. 40 jährig ist erstmals 2012 in die CH eingereist, danach hat er die CH wieder verlassen. Im 2016 reiste er erneut in die CH ein und war mit einer Frau, welche im Besitzt eines EU-Pass ist, verheiratet. Das Paar trennte sich aus persönlichen Gründen später und aktuell ist Herr X. geschieden. Da ihn diese Situation sehr belastet habe, habe er sich nicht um die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung B gekümmert. Per April 2020 hat ihm das Kantonale Bevölkerungs- und Migrationsamt FR die Aufenthaltsbewilligung B entzogen. Folge dessen ist er illegal in der CH gewesen. Im August 2020 ging er nach Tunesien an eine Hochzeit, wo er einen Unfall hatte und daraufhin eine Rückenmarkverletzung zuzog, seither eine Paraplegie hat und zur Fortbewegung einen Rollstuhl benötigt. Da seine letzte Anstellung in der CH weniger als 30 Tage zurücklag, war er UVG-versichert und ging in die Schweiz zurück, wo er rehabilitiert wurde. "Logischerweise" wollte keine Versicherung für Ihn zuständig sein, wie auch keine Gemeinde Sozialhilfe bezahlen.
Nach langem hin und her hat er nun den gesetzlichen Wohnsitz (ca. Februar/März 2021 > nach stationärem Aufenthalt) im Kanton FR und bezieht Nothilfe, da er keinen Aufenthaltsbewilligung hat. Am 9. September 2021 bekam er ein Schreiben des Kantonalen Sozialamtes des Kts FR, welches ihm die Nothilfe per 30.9.2021 einstellt, da er das Land zu verlassen habe.
Gemäss Austausch mit seinem Anwalt, welcher bereits vor langer Zeit ein Gesuch für eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen gemacht habe, sei es aus juristischer Sicht möglich, die Nothilfe einzustellen.
Ist dem so? Und wenn ja, wer würde für finanziell für Herrn X. aufkommen?
Vielen Dank für Ihre Rückmeldungen und beste Grüsse
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrter Herr Post
Gerne beantworte ich Ihre rechtlich komplexe Frage. Sie schildern, dass das Kantonale Sozialamt die Nothilfe eingestellt hat, weil Ihr Klient das Land zu verlassen habe. Es geht somit um seine Rückkehr nach Tunesien – sein Herkunftsland. Kein Thema ist jedoch seine Notlage bzw. Bedürftigkeit, dies scheint unbestritten zu sein. Auch kein Thema ist die versicherungsrechtliche Problematik.
Der Anspruch auf Nothilfe leitet sich aus Art. 12 BV ab. Es handelt sich um ein soziales Grundrecht, das einen einklagbaren Anspruch auf eine Leistung - die Nothilfe - begründet. Der Schutzbereich des Grundrechts ist zugleich Kerngehalt und kann nicht gekürzt werden. Das Ausrichten der Nothilfe ist Sache der Kantone, ggf. der Gemeinden. Dieses Grundrecht können alle natürlichen Personen in der Schweiz anrufen, unabhängig von Staatszugehörigkeit, Aufenthaltsstatus usw. inklusive illegal Anwesende.
Vorausgesetzt wird das Vorliegen der Bedürftigkeit, welche aktuell sein muss, d.h. tatsächlich eingetreten oder unmittelbar drohend. Der Anspruch ist verschuldensunabhängig. Es gilt ebenfalls das Subsidiaritätsprinzip, wonach eigene Einnahmen oder jene von Drittquellen der Sozialhilfe vorgehen, wobei diese rechtlich und tatsächlich sowie unmittelbar vorhanden sein müssen, um die Notlage zu beheben.
Zur Abklärung der Bedürftigkeit trifft die in Notlage befindliche Person eine Mitwirkungspflicht bei der Sachverhaltsabklärung. Unzulässig ist aber, dass die Nothilfe als Druckmittel zur Erreichung sachfremder Ziele (ausländerrechtlich: Papierbeschaffung für Ausreise) verwendet wird bzw. deren Anspruch von der Erfüllung solcher Ziele/Auflagen abhängig gemacht wird.
Diese wesentlichen Aspekte zur Nothilfe stützen sich auf folgende Quelle, welche inklusive Hinweise auch nach wie vor ihre Gültigkeit hat:
Biaggini Giovanni, in: BV Kommentar, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 12 Recht auf Hilfe in Notlagen N 2 ff. mit Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts u.a. BGE 121 I 367, 130 I 71, 131 I 166, 134 I 214, 135 I 119, 138 V 310, 142 I 1.
So auch die Erläuterungen a) bis c) zu A.5 SKOS-RL.
Zwischenfazit I: Unter dem Blickwinkel von Art. 12 BV hat Ihr Klient Anspruch auf Nothilfe, sofern seine Bedürftigkeit ausgewiesen ist. Unerheblich ist, dass er über keine ordentliche Aufenthaltsbewilligung verfügt. Es stellt sich demnach die Frage, ob eine gesetzliche Grundlage besteht, die Nothilfe einzustellen.
Für den Anspruch auf finanzielle Unterstützung knüpft Art. 5 SHG/FR wie Art. 12 BV an eine Notlage. Im Freiburger Sozialhilferecht selber finden sich ferner lediglich die «Richtsätze der materiellen Hilfe für Personen, die sich im Kanton aufhalten, vorübergehend hier oder ohne Aufenthaltsbewilligung im Kanton sind» vom 1. April 2004, die auf der Webseite des Kantons Freiburg publiziert sind. Diese Richtsätze regeln sinngemäss die Bemessung der Nothilfe in den aufgeführten Fällen sowie bei Personen mit Nichteintretensentscheid (NEE) aus dem Asylbereich. Für die Frage des Anspruchs im vorliegenden Fall enthalten sie keine Regelung.
Die SKOS-Richtlinien, welche für den Kanton Freiburg im Bereich Sozialhilfe gelten (Art. 22a Abs. 1 SHG/FR, Art. 17 der Verordnung über die Richtsätze für die Bemessung der materiellen Hilfe nach dem Sozialhilfegesetz [nachfolgend: VoRichtsätze]), enthalten Ausführungen zur Nothilfe in SKOS-RL A.5. Der vorliegende Fall könnte von SKOS-RL A.5 Abs. 2 erfasst sein. Danach gilt Folgendes:
2 Personen ohne Recht auf Verbleib in der Schweiz haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Gelangen sie in der Schweiz in eine Notlage, haben Sie Anspruch auf Hilfe in Notlagen in folgendem Umfang:
- Wenn eine Rückreise möglich und zumutbar ist, beschränkt sich der Anspruch auf Notfallhilfe, namentlich die Rückreisekosten und Essensgeld.
- Solange eine Rückreise nicht möglich oder zumutbar ist, besteht ein Anspruch auf Nahrung, Obdach, Kleidung und medizinische Grundversorgung
Falls Ihrem Klienten demnach die Rückreise möglich und zumutbar ist, hat er nach den SKOS-RL Anspruch auf Notfallhilfe, dabei werden besonders Rückreisekosten und Essensgeld genannt, andernfalls hat er Anspruch auf die typische Nothilfe, nämlich Nahrung, Obdach, Kleidung und medizinische Grundversorgung.
Diese Regelung der SKOS-RL orientiert sich an Art. 21 ZUG, ist aber enger gefasst. Art 21 ZUG regelt unter dem Titel «Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz» Folgendes:
1 Bedarf ein Ausländer, der sich in der Schweiz aufhält, hier aber keinen Wohnsitz hat, sofortiger Hilfe, so ist der Aufenthaltskanton unterstützungspflichtig.
2 Der Aufenthaltskanton sorgt für die Rückkehr des Bedürftigen in seinen Wohnsitz- oder Heimatstaat, wenn nicht ein Arzt von der Reise abrät.
Art. 21 Abs. 2 ZUG schränkt die sofortige Hilfe (auch Notfallhilfe genannt) ebenfalls auf die Rückreise ein, sobald diese zumutbar ist. Im Unterschied zu den SKOS-RL ist Art. 21 Abs. 2 ZUG auf ausländische Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz beschränkt.
Sobald aber eine ausländische Person einen Unterstützungswohnsitz in der Schweiz hat, kommen die Regeln von Art. 20 ZUG zur Anwendung, welche keine Regelung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 ZUG (Rückkehrfinanzierung) kennt.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das ZUG, wenn es um die Hilfe in Notlagen geht (sofortige Hilfe), zwischen AusländerInnen mit und ohne Unterstützungswohnsitz unterscheidet, für letztere Gruppe das ZUG die sofortige Hilfe und die Hilfe zur Rückreise vorsieht, falls medizinisch zumutbar. Daran haben sich wohl auch die SKOS-RL orientiert, ohne aber die Differenzierung von Unterstützungswohnsitz und Aufenthalt zu machen.
Zwischenfazit II: Hat Ihr Klient Unterstützungswohnsitz im Sinne von Art. 4 ZUG im Kanton Freiburg begründet, hat er meiner Meinung nach weiterhin Anspruch auf Nothilfe und die angekündigte Einstellung der Nothilfe wäre unzulässig. Hat er aber keinen Unterstützungswohnsitz begründet, bestehen rechtliche Anhaltspunkte dafür, dass die Einstellung zulässig sein könnte bzw. diese nach Erbringen der sofortigen Hilfe auf die Rückreise (soweit medizinisch zumutbar) begrenzt werden dürfte.
Dreh- und Angelpunkt ist demnach der Unterstützungswohnsitz. Nach Art. 4 Abs. 1 ZUG hat der Bedürftige seinen Wohnsitz nach diesem Gesetz (Unterstützungswohnsitz) in dem Kanton, in dem er sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Grundsätzlich spielt bei der Begründung des Unterstützungswohnsitz die fremdenpolizeiliche Bewilligung keine Rolle (so das Bundesgericht jedenfalls im Bereich des zivilrechtlichen Wohnsitzes, wenn es um die KVG-Versicherungspflicht geht BGE 125 V 76 Erw. 2). Dennoch wird im Sozialhilfebereich dieser Punkt immer wieder in Frage gestellt, so auch im Merkblatt der SKOS «Unterstützung ausländischer Personen aus Drittstaaten» vom 2019 (Kap. 2.1). Letztlich handelt es sich um eine Rechtsfrage, welche die Rechtsprechung klären muss. Würde in Ihrem Fall der Unterstützungswohnsitz, wie dies offenbar beim zivilrechtlichen Wohnsitz geschah, bejaht werden, bestünde aus meiner Sicht kein Raum für die Einstellung der Nothilfe. Dann könnte man sich weiterführend noch fragen, ob Nothilfe zulässig ist, wenn jemand Unterstützungswohnsitz hat. Das wäre dann die Frage, ob eine gesetzliche Grundlage für Ausrichtung von Nothilfe anstelle von ordentlicher Sozialhilfe besteht, die ich vorliegend offen lassen möchte, da nicht Gegenstand Ihrer Anfrage.
Wenn nicht von einem Unterstützungswohnsitz, sondern Aufenthalt ausgegangen wird, wird im erwähnten SKOS-Merkblatt in Kap. 2.4 die Notfallhilfe näher erläutert. Diese Erläuterung lassen eher den Schluss zu, dass die Nothilfe nur bis und mit der nächstmöglichen, medizinisch zumutbaren Rückreise gewährleistet ist. Soweit sich diese Ausführungen mit Art. 21 Abs. 2 ZUG decken, liegt dafür (wie auch für SKOS-RL A.5 Abs. 2) eine gesetzliche Grundlage auf Stufe Bundesrecht vor. Aber auch hier scheint für mich nicht von Vornherein klar, dass sich dies Rechtslage mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts vereinbaren lässt, insbesondere was BGE 131 I 166 Erw. 7.1 anbelangt. Im Übrigen äussert sich auch Werner Thomet im Kommentar zum Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger, Schulthess 1994, zu Art. 21 N. 235 ff. zurückhaltend zur Beschränkung der Notfallhilfe auf die Rückkehr.
Fazit: Das ZUG als bundesgesetzliche Grundlage scheint meiner Meinung nach im vorliegenden Fall keine eindeutige Grundlage für die Einstellung der Nothilfe nach Art. 12 BV zu bieten und insoweit auch nicht die SKOS-RL, noch weniger das kantonale Recht. Es wäre daher die Anfechtung der Verfügung mittels Einsprache (Art. 35 SHG/FR) zu prüfen (8-ung: Frist beachten). Vorfrageweise wäre dabei zu klären, ob der Klient rechtlich Unterstützungswohnsitz begründet hat. Falls nur Aufenthalt vorliegt, wäre des Weiteren zu klären, ob die Einstellung der Nothilfe grundsätzlich und im konkreten Fall zulässig ist.
Während der Dauer des Einsprachverfahrens müsste die Nothilfe weiter ausgerichtet werden (Art. 70 VRG/FR). Falls die aufschiebende Wirkung in der Verfügung entzogen worden ist (Art. 70 Abs. 1 lit. c VRG/FR), müsste beantragt werden, dass diese wiederhergestellt würde.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen Ihre Frage beantwortet zu haben.
Ruth Schnyder