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Nichteintretensentscheid IV, Sucht

Veröffentlicht:
20.02.2020
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Guten Tag

Unser Klient, Jg1966 bezieht seit vielen Jahren WSH aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit.

Am 23.8.2017 wurd eine erste IV Anmeldung gemacht welche mit folgendem Abklärungsergebnis abgelehnt wurde: "Die Abklärungen haben ergeben, dass Ihre Arbeitsunfähigkeit vor allem durch das Abhängigkeitsverhalten begründet ist und deshalb keine Invalidität im Sinne des Gesetzes vorliegt. Somit wird Ihr Gesuch vom 23.8.2017 abgelehnt."

Am 30.9.2019 machten wir eine neue Anmeldung. Leider schaffte es der behandelnde Hausarzt bis heute nicht einen aktuellen Arztbericht einzureichen. Mit Vorbescheid vom 21.10.2019 wurde das nicht Eintreten auf das neue Leistungsbegehren mit folgender Begründung verfügt: "Ihr erstmaliges Gesuch vom 23.8.2017 wurde mit Verfügung vom 13.02.2018 abgewiesen. Um ein erneutes Leistungsbegehren prüfen zu können, muss sich Ihre medizinische Situation wesentlich geändert haben und mit Berichten belegt sein. Selbsteinschätzungen reichen nicht aus. Solche Veränderungen konnten wir Anhand der Anmeldung vom 30.9.2019 nicht feststellen."

Wir machten fristgerecht Einwand gegen den Vorbescheid und versuchten weiterhin den Arzt dazu zu bringen einen aktuellen Arztbericht einzureichen, obwohl sich die medizinische Situation tatsächlich nicht gross verändert hat. Wir wiesen im Einwand auf das Bundesgerichtsurteil vom 11.7.2019 hin und baten zu prüfen ob sich die Suchtmittelabhängigkeit auf dei Arbeitsfähigkeit auswirke, was ja anhand der Begründung aus der Verfügung vom 13.2.2018 klar belegt ist.

Mit Verfügung vom 30.1.2020 wurde nun das Nicht-Eintreten definitiv mit folgender Begründung verfügt:"Die neue Rechtssprechung bildet per se keinen Grund für ein Zurückkommen auf rechtskräftig entschiedene Fälle, weder unter dem Titel der Widererwägung noch unter dem Titel der Anpassung an eine geänderte Gerichtspraxis. Hierfür ist eine Neuanmeldung erforderlich. Auf eine Neuanmeldung kann nur eingetreten werden, wenn eine versicherte Person eine anspruchsrelevante Änderung des Gesundheitszustandes oder des Sachverhaltes glaubhaft machen kann. In Ihrem Einwand geben Sie an, dass die gesundheitliche Situation unverändert sei. Zudem wurden keine zusätzlichen Arztberichte nachgereicht, die eine Änderung des Gesundheitszustandes belegen würden."

Ist diese Begründung rechtlich ok? Was empfehlen Sie uns bezüglich weiterem Vorgehen?

Besten Dank für Ihre Antwort.

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrte Frau Suter

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage.

1. Mit BGE 145 V 215 vom 11. Juli 2019 hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Beurteilung des Anspruchs auf Leistungen der Invalidenversicherung bei Vorliegen einer Suchterkrankung grundsätzlcih geändert.

2. Fachärztlich einwandfrei diagnostizierte Suchterkrankungen und Abhängigkeitssyndrome sind grundsätzlich für die IV relevante psychische Gesundheitsschädigungen zu beachten. Deshalb ist künftig wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen im Prinzip mit einem strukturierten Beweisverfahren abzuklären, ob und wie sich die Suchterkankung auf die  medizinisch-technische Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt.

3. Die neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht rechtkräftig erledigten Fälle anzuwenden (vgl. Urteil des BGer 8C_259/2019 vom 14. Oktober 2019, Erw. 5.1). Es besteht aber durch die neue Rechtsprechung keine Grundlage rechtskräftig entschiedene Fälle in Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG zu ziehen. Auch nicht mit der Begründung der Anpassung an eine geänderte Gerichtspraxis (vgl. BGE 135 V 201 vom 26. März 2009).

4. Deswegen ist es korrekt, wenn auf eine Neuanmeldung nur eingetreten wird, wenn die betroffen Person eine anspruchsrelevante Änderung des Gesundheitszustandes oder anderer wesentlicher Aspekte glaubhaft machen kann (vgl. Art. 17 ATSG, Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV, sowie Rz. 5012 ff. KSIH (Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit, Stand 1.1.2020). Das heisst also, dass für eine Neuanmeldung eine wesentlich geänderte Situation der GEsundheit durch eine aktuelle Beurteilung der  Arbeitsunfähigkeit beizubringen ist oder/und etwa entsprechende Berichte aus Arbeits- und Arbeitsintegrationsprogrammen. Wenn dies durch den behandelnden Arzt nicht ausgestellt wird, so rate ich dazu, möglichst über einen anderen Arzt eine entsprechenden aktuelle Untersuchung und einen Bericht einzuholen. Und diesen wenn möglich zu ergänzen mit einem Bericht aus aktuellen Angeboten der Arbeitstätigkeit/Arbeitsintegration. 

5. Zur Ergänzung: Mit Urteil 9C_309/2019 vom 7. November 2019 hat das Bundesgericht in Erwägung 4.2.2. die Anordnung einer Behandlung zum Entzug vor einer medizinischen Begutachtung als Teil der Mitwirkungspflicht im Abklärungsverfahren als nicht zulässig bewertet.  Die versicherten Personen dürfen daher im Vorfeld zu einer Begutachtung nicht gezwungen werden, sich einer Entzugsbehandlung zu unterziehen.
Hingegen kann eine zumutbare Entzugsbehandlung oder andere Therapieauflage als Behandlungsmassnahme als Schadenminderung auferlegt werden, soweit dies zumutbar ist.

6. Fazit: Tatsächlich hat in Ihrem Fall die Neuanmeldung nur eine Chance, wenn sich eine anspruchsrelevante Änderung des Gesundheitszustandes glaubhaft machen lässt.  Entscheidend wird dann aber insbesondere auch sein, ob im Rahmen der IV-Verfahren die Psychiaterinnen und Psychiater im jeweiligen Einzelfall nachvollziehbar aufzeigen können, wie und warum die Suchterkrankung zu funktionellen Leistungseinschränkungen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit führt. Idealerweise wird eine solche Abklärung bereits vor der Anmeldung bei der IV eingeleitet.

Ich hoffe, das dient Ihnen.

Prof. Peter Mösch Payot