Liebes Expertenteam
Bei mir ist ein Dossier schon viel zu lange pendent und es stehen viele offene Fragen im Raum. Nachfolgend versuche ich den Sachverhalt kurz darzustellen:
- KL mit starker Demenzerkrankung (selbständiges Wohnen nicht möglich) lebt gemeinsam mit ihrer Schwester in einer Wohnung. Die Damen werden abwechseln durch zwei Frauen aus dem Ausland betreuut.
- Antrag um WSH für KL stellvertretend vom Sohn eingereicht. Explizite Schilderung, dass eine Heimbetreuung nicht in Frage komme.
- Budget Eintrittsschwelle ohne Berücksichtigung der Betreuungskosten > kein Anspruch, mit Betreuungskosten (Kosten von CHF 4'000.- pro Monat, keine Belege vorhanden, 24h Betreuung, Betreuungsperson wohnt dort)
Der Sozialdienst thematisiert im Rahmen des Erstgespräches, dass das aktuelle (illegale) Betreuungsverhältnis so nicht gestützt werden kann. Aufklärung betr. möglicher Optionen, damit der Sozialdienst die Betreuungssituation ggf. akzeptieren kann (Anerkennung der Diplome für kantonale Beiträge / geregeltes Arbeitsverhältnis welches den geseztlichen Vorgaben entspricht). In gegenseitigem Einverständnis wird der Antrag pendent gehalten (vgl. Art. 25 Abs. 1 kVRG). Die Antragsstellenden wollten zu keinem Zeitpunkt den Antrag zurückzuziehen.
Der Antrag um WSH ging am 23.02.2022 bei uns ein. Der letzte Kontakt erfolgte am 24.05.2022 und seitens vertretungsberechtigter Antragsstellenden wurde der Sozialdienst zu diesem Zeitpunkt erneut gebeten, den Antrag pendent zu halten, weil es mit den Diplomen der Pflegerinnen Probleme gebe - sie würden sich wieder melden. Bei mir ging das Dossier infolge Arbeitslast etwas "unter".
Seither ist keine erneute Kontaktaufnahme seitens den Antragsstellenden erfolgt. Die Bedürftigkeit scheint nicht mehr gegeben, da wir aufgrund des Kontaktabbruches davon ausgehen müssen, dass die KL ihre Existenz anderweitig decken kann. Im Rahmen der Abklärungen erhielten wir Hinweise auf eine mögliche Verwandtenunterstützung. Uns stellen sich (teils zu spät) folgende Fragen:
1. Wie ist ein solches Arbeits- bzw. Betreuungsverhältnis allgemein in der WSH zu berücksichtigen?
2. Wie lange ist ein Antrag i.d.R. maximal pendent zu halten?
..und im konkreten Fall:
3. Welches Vorgehen empfehlen Sie dem Sozialdienst?
Unser Dienst hat keine Verfügungskompetenz. Diese liegt bei der Gemeinde.
4. Ist es möglich, ein Schreiben an die Antragsstellenden bzw. Vertretungsberechtigten zu richten mit Schilderung des Sachverhaltes, Sie betr. Abschluss des Dossiers infolge Kontaktabbruch zu informieren und zugleich auf ihr Recht hinzuweisen, eine Verfügung zu verlangen, damit keine Rechtsverweigerung entsteht?
..sollte eine Nichteintretensverfügung angezeigt sein:
5. Auf welchen Argumenten liesse sich eine solche am einfachsten aufbauen?
Wir danken Ihnen im Voraus für die Antwort und Orientierungshilfe.
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Gerne beantworte ich Ihre Anfrage.
Zur Frage 1: Wie ist ein solches Arbeits- bzw. Betreuungsverhältnis allgemein in der WSH zu berücksichtigen?
Im geschilderten Fall sind zwei Aspekte aus sozialhilferechtlicher Sicht als kritisch einzustufen: Die Finanzierung von Pflege- und Betreuungsleistungen einerseits, welche rechtlich nicht korrekt bezogen werden, und andererseits die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, indem ein Betreuungssetting etabliert ist, das mit den Pflegeleistungen der Sozialversicherungen (zumindest teilweise) nicht kompatibel ist somit auf diesbezügliche Leistungen verzichtet wird. Der Bezug der Hilflosenentschädigung der IV bei Personen im Erwerbsalter und AHV bei Personen im Rentenalter ermöglicht eine Finanzierung auch solcher Betreuungsverhältnisse, da die Hilflosenentschädigung unabhängig der bezogenen Pflege/Betreuung pauschal ausgerichtet wird. Hingegen ist dies beim Assistenzbeitrag der IV bereits nicht mehr möglich, wo ein geregeltes Arbeitsverhältnis mit Sozialversicherungsabzügen (Art. 42quinquies IVG; Rz. 3016 KSAB) vorausgesetzt wird, wobei der Assistenzbeitrag nur bei Personen, welche nicht im AHV-Alter sind, beantragt werden kann, es sei denn es wurde ein solcher bereits im Erwerbsalter bezogen. Als weitere Quelle der Finanzierung sind die Krankenkassen zu nennen. Über das KVG lässt sich jedoch nur professionelle Pflege (Art. 7 Abs. 1 KLV) finanzieren und soweit es nicht Heime/Spitäler sind, müssen die betreffenden Personen Zulassungskriterien erfüllt werden (Art. 49 KVV). Sind die Voraussetzungen nach KVG nicht erfüllt, besteht auch kein Zugang zur kantonalen Finanzierung, welche die vom KVG nicht gedeckten Restkosten betrifft (vgl. dazu 28d kKVG / NW). Als weitere Finanzierungsquelle kommen sodann die Ergänzungsleistungen zum Tragen, welche unter anderem in Ergänzung zu einer IV- oder AHV-Rente oder einer IV-Hilflosenentschädigung beantragt werden können (Art. 4 ELG). Im Rahmen der Krankheits- oder Behinderungskosten werden unter anderem Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause finanziert, wobei die Voraussetzungen gemäss kantonalem Recht, vorliegend der kELV / NW (§ 9 ff.), eingehalten werden müssen, wobei auch hier das Subsidiaritätsprinzip gilt somit die KVG-Leistungen vorrangig sind (§ 3 kELV / NW).
Die Sozialhilfe muss aufgrund des Subsidiaritätsprinzip die um Hilfe nachsuchenden Personen anhalten, diese vorrangigen Leistungen geltend zu machen (Art. 3 SHG / NW). Dabei ist eine vorübergehende Unterstützung angezeigt, wenn diese vorrangigen Leistungen noch geltend gemacht werden müssen (Art. 17 Abs. 2 SHG / NW). Vorausgesetzt ist, dass die Pflege und Betreuung zum sozialen Existenzminimum zu zählen sind (Art. 17 Abs. 1 SHG / NW). Soweit sie nach den SKOS-RL zu den grundversorgenden situationsbedingten Leistungen (SIL) zu zählen sind, sind sie der materiellen Grundsicherung zuzurechnen, welche bei der Anspruchsprüfung als relevante Grösse im Rahmen des sozialen Existenzminimums nach SHG / NW zu beachten ist (vgl. C.1 SKOS-RL in Verbindung mit Art. 8 SHV / NW). Die Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause gehören nach C.5.5 Abs. 2 SKOS-RL zu den fördernden SIL. Sie können demnach übernommen werden, wenn sie den Zielen der Sozialhilfe dienen. Insoweit zählen nach den SKOS-RL Hilfe, Pflege und Betreuung zu Hause nicht zur materiellen Grundsicherung, was damit zu erklären ist, dass ein solcher Bedarf in der Regel anderweitig finanziert werden kann. Die demenzerkrankte Klientin ist aber offenbar nicht mehr in der Lage, ohne Pflege und Betreuung auszukommen, insofern erscheint es bei einer akuten finanziellen Notlage richtig, diesen Bedarf bei der Anspruchsberechnung dennoch zu berücksichtigen (SKOS-RL C.2 Abs. 3). Jedoch kann die Sozialhilfe im Sinne des Subsidiaritätsprinzips verlangen, indem sie eine entsprechende Auflage erteilt, dass die gesuchstellende Person die eingangs erwähnten vorrangigen Leistungen geltend macht und entsprechend die Rahmenbedingungen dafür schafft. Insoweit würde es sich lediglich um eine vorübergehende Unterstützung und Bevorschussung handeln.
Die Finanzierung dieser SIL setzt aber voraus, dass entsprechende Belege vorgelegt werden (SKOS-RL C.6.1 Abs. 3), welche vorliegend offenbar nicht eingereicht wurden. Den SKOS-RL lässt sich nicht entnehmen, dass die geltend gemachten Leistungen bzw. Kosten die ausserhalb der Sozialhilfe stehenden rechtlichen Rahmenbedingungen (vorderhand arbeitsrechtliche Bestimmungen, Sozialversicherungsabgaben, migrationsrechtliche Vorgaben) einhalten müssen. Meiner Meinung nach ergibt sich dies aber aus allgemeinen Grundsätzen wie dem Rechtsmissbrauchsverbot: Die staatliche Sozialhilfe darf nicht dazu angehalten werden, nicht legale situationsbedingte Auslagen zu finanzieren und aufrechtzuerhalten, auch wenn die rechtliche Konformität nicht explizit als Leistungsvoraussetzung regelt ist. Insofern ist es gerechtfertigt, dass im konkreten Fall die Etablierung der rechtlichen Konformität verlangt wurde. Dabei würde die Anmeldung bei der Ausgleichskasse, Unfallversicherung und – soweit die Bewilligung nicht vorhanden – beim Migrationsamt fürs Erste reichen, damit die Unterstützung aufgenommen werden könnte, um die Versorgung der demenzkranken Person im Moment zu gewährleisten und die weiteren Rahmenbedingungen für die oben dargelegten, vorrangigen Leistungen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips etabliert werden können. Natürlich sollte auch ein Augenmerk darauf gelegt werden, dass die Vorschriften des Heilmittelgesetzes (HMG) eingehalten werden, wenn durch das Personal Medikamente abgegeben werden.
Wie Sie darlegen, haben Sie entsprechende Schritte verlangt, bevor der Fall der Gemeinde als Unterstützungsantrag unterbreitet wird. Dem ist der bevollmächtigte Sohn bis heute offenbar nicht nachgekommen, ebensowenig dem Nachweis der Kosten, was zu den weiteren Fragen führt.
Zu Frage 2: Wie lange ist ein Antrag i.d.R. maximal pendent zu halten?
Dazu gibt es keine Vorgaben weder im Sozialhilferecht noch im Verfahrensrecht (VRG / NW), dies ist davon abhängig, was die Behörde von der gesuchstellenden Person verlangt. In der Verwaltungspraxis sollten die Anforderungen definiert werden und gleichzeitig eine angemessene Frist gesetzt werden. Will die Behörde im Säumnisfall die gesetzlichen Folgen umsetzen, z.B. ein Nichteintreten, hat sie dies vorgängig anzudrohen (Art. 37 Abs. 2 VRG / NW), so explizit auch Art. 18 Abs. 2 SHG / NW im Falle des Nichteintretens. Falls die Frist dann effektiv zu kurz bemessen wurde, kann auf begründeten Antrag der gesuchstellenden Person hin, diese (letztmalig) verlängert werden mit erneuter Androhung der Säumnisfolgen.
Zu Frage 3: Welches Vorgehen empfehlen Sie dem Sozialdienst?
Als mögliches Vorgehen kann ich Ihnen empfehlen, der Klientin bzw. dem bevollmächtigten Sohn schriftlich und eingeschrieben mitzuteilen, dass der Sozialdienst ohne Widerspruch der Klientin innert 2 oder 3 Wochen (es kann auch ein bestimmtes Datum genannt werden) der Gemeinde den Antrag auf Nichteintreten stellen würden, da keine Belege eingereicht wurden und der Sozialdienst keine weitere Nachricht erhalten hat. Weisen Sie gleichzeitig nochmals darauf hin, dass die Finanzierung der Kosten als SIL erfordert, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen (Sozialversicherungsabgaben etc.) eingehalten werden und im Falle einer Unterstützungsaufnahme es sich aufgrund des Subsidiaritätsprinzips lediglich um eine vorübergehende Unterstützung handeln dürfte, bis die Rahmenbedingungen für die vorrangingen Leistungserbringer (Krankenkasse, kantonale Pflegefinanzierung, EL) etabliert sind. Damit geben Sie der Klientin die Möglichkeit, das Nichteintreten abzuwenden, indem sie durch Ihren bevollmächtigen Sohn Widerspruch erheben kann, gleichzeitig haben Sie die Säumnisfolgen angedroht und zudem die weiteren Bedingungen in Aussicht gestellt, falls am Antrag festgehalten wird. Aus meiner Sicht ist damit auch das rechtliche Gehör gemäss Art. 40 VRG / NW gewahrt. Bleibt die Reaktion innert Frist aus, ist die Gemeinde entsprechend zu informieren, damit das Nichteintreten verfügt wird. Wird Widerspruch erhoben ohne weitere Belege, dann ist eine erneute Frist zu setzen mit den konkreten Forderungen (Einreichung der Belege und Etablierung der Rahmenbedingungen für die Legalisierung) unter Androhung des Nichteintretens bzw. Abweisung bei Nichtbefolgen. Die Abweisung wäre dann aus meiner Sicht richtig, wenn zwar die Belege eingereicht werden, jedoch keine Schritte zur Legalisierung unternommen werden.
Zu 4.: Auf Recht hinweisen, eine Verfügung zu verlangen.
Ich empfehle eher, den Antrag mit einer Nichteintretensverfügung zu beantworten als diese nur anzubieten.
Zu 5.: Begründung der Nichteintretensverfügung
Ein Nichteintreten ist gerechtfertigt, wenn innert der gesetzten Frist kein Widerspruch eingegangen ist. In diesem Fall sollte die Gemeinde ihren Entscheid damit begründen, dass gegen die Androhung des Nichteintretens kein Widerspruch erhoben wurde und bis zum heutigen Zeitpunkt die erforderlichen Belege nicht eingereicht wurden, um die Bedürftigkeit beurteilen zu können.
Dann kann als weitere Argumentation noch angeführt werden, dass die Finanzierung der Kosten als SIL erfordert, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen (Sozialversicherungsabgaben etc.) eingehalten werden und im Falle einer Unterstützungsaufnahme es sich aufgrund des Subsidiaritätsprinzips lediglich um eine vorübergehende Unterstützung handeln würde, bis die Rahmenbedingungen für die vorrangingen Leistungserbringer (Krankenkasse, kantonale Pflegefinanzierung, EL) etabliert sind.
Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Frage beantwortet zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder