Sehr geehrte Herren
Unsere Frage betrifft eine Klientin mit Jahrgang 1971, welche einerseits hochgradig schwerhörig ist und bei der zudem eine psychische Erkrankung besteht.
Mit Verfügung vom 24.09.2015 lehnte die IV-Stelle einen Anspruch auf berufl. Massnahmen und Rente ab mit der Begründung, unsere Klientin habe die Mitwirkungspflicht verweigert aufgrund ihrer Einnahme von Benzodiazepinen.
Unsere Klientin legte Beschwerde ein gegen diesen Entscheid, woraufhin die IV die Verfügung wiedererwägungsweise aufhob und den Anspruch erneut prüfte. Es wurde ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten in Auftrag gegeben, welches am 10.11.2016 durchgeführt wurde. Dieser stellte die Diagnose einer komb. Persönlichkeitsstörung mit Fokus auf Verbitterungssyndrom von geringer Ausprägung. Er hielt weiter fest, es könne aus versicherungspsychiatrischer Sicht zusammenfassend festgestellt werden, dass die im Fall der VP leicht bis zeitweise maximal mittelschwer ausgeprägte kombinierte Persönlichkeitsstörung ab 04/2011 einen relevanten (krankheitsbedingten) Einfluss auf ihre Arbeitsfähigkeit als ungelernte Hilfskraft auf dem 1. ausgeglichenen Arbeitsmarkt hat. Für die früher in der Schweiz ausgeübte Tätigkeiten ist dabei eine Arbeitsunfähigkeit von 35% (von 100%) anzunehmen. Für angepasste Tätigkeiten (Toleranz bzgl. interaktioneller Defizite, keine erhöhten Anforderungen an interpersonellen Kontakt, wenig Leistungsdruck) und für Tätigkeiten im persönlichen Haushalt kann von keiner relevanten (mehr als 20% von 100%) Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden.
Der RAD schätzte das Gutachten als nachvollziehbar ein. Die zuständige Ärztin hielt fest, eine Benzodiazepin-Karenz sei zuzumuten. Bei Interesse der Versicherten bzgl. berufl. Massnahmen können solche nur umgesetzt werden, wenn sie 6-monatige Benzodiazepin-Karenz vorweisen kann.
Mit Verfügung vom 13.03.2017 entschied die IV, dass das Leistungsbegehren bzgl. berufl. Massnahmen und Rente abgewiesen werde. Unsere Klientin sei zwar in angestammter Tätigkeit eingeschränkt, in Verweistätigkeit jedoch weiter vollschichtig, ohne Leistungseinbusse arbeitsfähig. Ein Benzodiazepin-Verzicht sei zumutbar. Sie sei nicht auf spezielle Unterstützung der IV angewiesen. Für weitere Leistungen sei ALV zuständig. Es lägen zudem invaliditätsfremde Faktoren vor, die nicht berücksichtigt werden dürften.
Auf eine erneute Anmeldung hin verfügte die IV am 23.02.2018, dass auf das Leistungsbegehren nicht eingetreten werde, da sie erhebliche Veränderung der gesundheitlichen Situation nicht glaubhaft habe machen können.
Seither wurde unsere Klientin mehrfach stationär behandelt, infolge derer neue, anderslautende Diagnosen gestellt wurden. Die stationären Behandlungen erfolgten u.a. mit dem Ziel eines Benzodiazepin-Entzugs. Letzteres aber ohne Erfolg. Im letzten Austrittsbericht wird beschrieben, dass die Pat. grosse Mühe hatte, sich auf die stat. Behandlung einzulassen. Im Kontakt blieb sie zurückgezogen, verbrachte viel Zeit in ihrem Zimmer. Sie hatte auch eine niedrige Belastbarkeitsgrenze, fühlte sich im Stationsalltag sehr überfordert und konnte nicht mehr als eine Therapie pro Tag besuchen. Eine Reduktion des Benzodiazepins sei während des Klinikaufenthalts nicht möglich gewesen, da die Pat. Panikattacken hatte und behauptet habe, dass andere Methoden zur Bewältigung und Beruhigung nicht hilfreich waren. Die Ärzte waren sich klinikintern nicht einig – unsere Klientin wurde z.T. gestützt bei der weiteren Einnahme des Medikaments. Schriftlich festgehalten ist dies aber nicht.
Beschäftigungsangebote im niederschwelligsten Bereich via Sozialhilfe konnte unsere Klientin nicht wahrnehmen. Zuhause wird sie seit Jahren von der psychiatrischen Spitex betreut. Die behandelnde Psychiaterin sucht nach einer medikamentösen Alternative, bislang war keines der getesteten Mittel ausreichend wirksam.
Wie schätzen Sie angesichts der neuen bundesrichterlichen Rechtssprechung im Bereich der Abhängigkeitssyndrome unsere Chancen auf eine Berentung durch die IV ein im Falle einer erneuten Anmeldung?
Herzlichen Dank für Ihre Einschätzung.
Beste Grüsse
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Hedinger
1. Das Bundesgericht hat mit BGE 145 V 215 wie Sie wissen seine Praxis geändert und festgehalten, dass fachärztlich einwandfrei diagnostizierte Suchterkrankungen und Abhängigkeitssyndrome grundsätzlich für die IV relevante psychische Gesundheitsschädigungen sein können. Deshalb ist künftig wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen im Prinzip mit einem strukturierten Beweisverfahren abzuklären, ob und wie sich die Suchterkrankung auf die medizinisch-technische Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt.
2. Die neue Rechtsprechung bildet für sich noch keine Grundlage rechtskräftig entschiedene Fälle in Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG zu ziehen. Auch nicht mit der Begründung der Anpassung an eine geänderte Gerichtspraxis (vgl. BGE 135 V 201 vom 26. März 2009).
3. Auf eine Neuanmeldung wird also nur eingetreten werden, wenn die betroffene Person eine anspruchsrelevante Änderung des Gesundheitszustandes oder anderer wesentlicher Aspekte glaubhaft machen kann (vgl. Art. 17 ATSG, Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV, sowie Rz. 5012 ff. KSIH (Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit, Stand 1.1.2020).
4. Es besteht also die Hürde, dass eine, im Vergleich zur ablehnenden Entschiedung, wesentlich geänderte Situation der Gesundheit, bzw. der daraus abzuleitenden Folgen für die Arbeitsfähigkeit zu belegen wären.
Vorbereitend sind also Berichte der behandelnden ÄrztInnen und Kliniken zu beschaffen. Die behandelnden Ärzte sind insbesondere auch auf die Diagnose- und Gesundheitssituation im Zeitpunkt der ablehnenden IV-Verfügung hinzuweisen und zu bitten/aufzufordern, die seitherigen Abweichungen/Veränderungen der Gesundheitssituation und der Diagnose zu benennen und zu beschreiben. Wichtig wäre auch eine Beschreibung der Belastbarkeit und der gesundheitlichen Möglichkeit/Unmöglichkeit zu Eingliederungsmassnahmen
So besteht eine gute Chance, dass auf ein neues Gesuch eingetreten werden muss. Wobei dann für die weitere Prüfung, anders als bei der letzten IV-Rentenprüfung, auch die direkten Folgen der Abhängigkeitsproblematik zu berücksichtigen sind.
5. Zur Beachtung für das weitere IV-Verfahren: Mit Urteil 9C_309/2019 vom 7. November 2019 hat das Bundesgericht in Erwägung 4.2.2. die Anordnung einer Behandlung zum Entzug vor einer medizinischen Begutachtung als Teil der Mitwirkungspflicht im Abklärungsverfahren als nicht zulässig bewertet. Anders als noch in Ihrem Fall bei der früheren Abklärung: Die versicherten Personen dürfen daher im Vorfeld zu einer Begutachtung nicht gezwungen werden, sich einer Entzugsbehandlung zu unterziehen.
Hingegen könnte weiterhin eine zumutbare Entzugsbehandlung oder andere Therapieauflage als Behandlungsmassnahme als Schadenminderung auferlegt werden, aber nur soweit dies zumutbar ist.
6. Fazit: Tatsächlich hat in Ihrem Fall die Neuanmeldung nur eine Chance, wenn sich eine anspruchsrelevante Änderung des Gesundheitszustandes glaubhaft machen lässt. Entscheidend wird dann im IV-Verfahren insbesondere auch sein, ob im Rahmen der IV-Verfahren die Psychiaterinnen und Psychiater im jeweiligen Einzelfall nachvollziehbar aufzeigen können, wie und warum die Suchterkrankung zu funktionellen Leistungseinschränkungen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, aber auch den gesamten Lebensbereich führt. Idealerweise wird eine solche Abklärung bereits vor der Anmeldung bei der IV eingeleitet.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot