Guten Tag
Sachverhalt: 21-jähriger KL wird SH-rechtlich unterstützt. Aufgrund mangelnder Kooperation wurde er am 14.06.2022 mittels Weisung einem zweimonatigen "Abklärungsplatz AP" zugewiesen, ein Integrationsprogramm bei welchem er einen existenzsichernden Lohn erzielen könnte. Zur Vertragsunterzeichnung am 23.06.2022 ist er nicht erschienen. Am 05.07.2022 wurde er eingeschrieben ermahnt, zum neuen Termin zur Vertragsunterzeichnung am 19.07.2022 zu erscheinen. Gleichzeitig wurde bei Nichtbefolgen der Weisung die Einstellung der SH in Aussicht gestellt und das rechtliche Gehör ebenfalls bis am 19.07.2022 gewährt. Auch beim zweiten Termin ist er nicht erschienen.
Am 26.07.2022 wurde die SH per Verfügung auf den 31.08.2022 eingestellt, da der AP-Einsatz ab 01.08.2022 hätte starten können und Ende August der erste Lohn ausbezahlt worden wäre.
Am 23.08.2022 reichte der KL (innerhalb der Beschwerdefrist der Verfügung) ein Arztzeugnis eines Psychiaters ein, gemäss welchem er ab dem 13.07.2022 - 31.07.2022 arbeitsunfähig sei.
Ist der Sozialdienst verpflichtet, aufgrund eines nachträglich eingereichten Arztzeugnisses die Einstellungsverfügung zu widerrufen bzw. in Wiedererwägung zu ziehen?
Freundliche Grüsse
G. Heeb
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag
Ich bedanke mich für Ihre Frage und beantworte diese gerne wie folgt:
Im Kanton Bern ist eine gänzliche Einstellung bzw. ein vollständiger Entzug der Sozialhilfe wegen einer Pflichtverletzung unzulässig. Das Sozialhilferecht kennt als repressive Massnahmen (nebst der Ermahnung/Verwarnung) einzig die Kürzung (Art. 8, 9, 23 und 36 SHG). Die Einstellung bzw. die Anrechnung von einem Klienten zustehenden, bezifferbaren und durchsetzbaren Ansprüchen auf Ersatzeinkommen ist nur dann zulässig, wenn eine Person sich selber aus der finanziellen Notlage befreien könnte, sich jedoch ausdrücklich weigert, diese Selbsthilfe zu leisten. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Klient ein zumutbares und nach wie vor offenes Stellenangebot nicht annimmt (SKOS-RL F.3 Abs. 3 lit. c). Weiter ist die Einstellung nach dem Sozialhilfehandbuch der BKSE auch dann möglich, wenn der Klient sich weigert, an einem Beschäftigungsprogramm teilzunehmen, welches den Lebensbedarf sicherstellt (BGE 142 I 1). Ist das Programm befristet, ist die Einstellung für die entsprechende Dauer zulässig.
Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Unterstützungsleistungen nur eingestellt werden dürfen, wenn der Klient im Beschäftigungsprogramm ein Entgelt erhalten würde, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Ist das Entgelt tiefer als der Lebensbedarf, dürfen die Unterstützungsleistungen nicht eingestellt, sondern lediglich das Entgelt als Einnahmen angerechnet werden. Zudem muss das Beschäftigungsprogramm im August für den Klienten offen gewesen sein oder mit anderen Worten: Er hätte im August jederzeit antreten können müssen. Die Frage, ob das Programm zumutbar war, würde ich vorliegend grundsätzlich mit ja beantworten, da der Klient offenbar bis Ende Juli nicht aber für August 2022 krankgeschrieben wurde und damit im August hätte arbeiten können. Ob es weitere Gründe gibt, die das Beschäftigungsprogramm als für den Klienten unzumutbar erscheinen lassen, ist aus dem Sachverhalt nicht ersichtlich, muss aber abgeklärt sein, wenn die Unterstützungsleistungen eingestellt werden. Sobald die Teilnahme am Beschäftigungsprogramm nicht mehr möglich ist oder die vorgesehene Dauer abgelaufen ist, müssen die Unterstützungsleistungen wieder aufgenommen werden, wenn der Klient dann bedürftig ist.
Zwar scheint es mir vorliegend keine ausschlaggebende Rolle zu spielen, aber da Sie danach gefragt haben als Ergänzung: Rückwirkend datierte Arztzeugnisse sind heikel, da der Arzt/die Ärztin den Gesundheitszustand eines Patienten grundsätzlich nicht rückwirkend beurteilen kann. Sie haben gewöhnlich deshalb kaum eine Aussagekraft und müssen nicht berücksichtigt werden. Anders kann es nur sein, wenn die Situation tatsächlich vom Arzt/der Ärztin rückwirkend beurteilt werden kann (z.B. bei einem Unfall, bei dem nicht umgehend ein Arzt aufgesucht wird, die gesundheitlichen Einschränkungen aber klar darauf zurückzuführen sind).
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse