Sehr geehrte Frau Anderer
Wir sind eine vom kantonalen Jugendamt bewilligte Institution für Kinder und Jugendliche.
Die bei uns platzierten Klienten haben die unterschiedlichsten Kindsschutzmassnahmen. Sie haben ihren Lebensmittelpunkt bei uns, wohnen und übernachten in der Institution.
Bezüglich der Medikamentenabgabe erhielten wir bisher von keiner Stelle eine befriedigende Antwort auf die Frage wie die Medikamentenabgabe zu regeln ist.
Dürfen wir im eigenen Ermessen Medikamente verabreichen? Gibt es Unterschiede bzgl. der Kindsschutzmassnahmen, Alter oder Art der Medikamente? Müssten wir eine schriftliche Erlaubnis einfordern?
Herzlichen Dank im Voraus.
Freundliche Grüsse
Jörg Pieper
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrter Herr Pieper
Es stellen sich zwei Fragen.
- Wer entscheidet über die Medikamenteneinnahme?
Die medizinische Heilbehandlung ist ein relativ höchstpersönliches Recht nach Art 19c ZGB (KOKES, Praxisanleitung Kindesschutzrecht, N 10.27 ff.; Aebi-Müller, Fellmann, Gächter, Rütsche, Tag, Arztrecht, Bern 2016, N 159 ff.). Sind Minderjährige hinsichtlich der medikamentösen Behandlung urteilsfähig, entscheiden sie selbst darüber, ob sie Medikamente einnehmen wollen. Sind Medikamente verschreibungspflichtig, so haben Arzt und Ärztin eine Aufklärungspflicht. Es obliegt grundsätzlich dem Arzt und der Ärztin festzustellen, ob die minderjährige Person urteilsfähig ist.
Sind Minderjährige urteilsunfähig hinsichtlich der medikamentösen Behandlung, so entscheidet die gesetzliche Vertretung. Das sind häufig die Inhaber oder der alleinige Inhaber der elterlichen Sorge. Wurde eine Kindesschutzmassnahme angeordnet, so kann einem Beistand oder einer Beiständin gestützt auf Art. 308 Abs. 2 ZGB, allenfalls kombiniert mit Abs. 3, ein Vertretungsrecht in medizinischen Belange zukommen. Bei einer Vormundschaft besteht das Vertretungsrecht von Gesetzes wegen. Die ärztliche Aufklärungspflicht hat in all diesen Fällen gegenüber der gesetzlichen Vertretung zu erfolgen.
Mitarbeitende von pädagogischen Einrichtungen haben kein Vertretungsrecht.
Zusammengefasst: Der urteilsfähige Minderjährige entscheidet selbst über die medikamentöse Behandlung, der urteilsunfähige Minderjährige wird vom gesetzlichen Vertreter vertreten. - Was haben pädagogische Einrichtungen bei der Medikamentenabgabe zu beachten?
Werden in pädagogischen Institutionen Medikamente abgegeben, müssen besondere Sorgfaltsregeln beachtet werden. Durch ein unsorgfältiges Handling können schwere gesundheitliche Schäden verursacht werden, die den strafrechtlichen Tatbestand der Körperverletzung oder gar Tötung erfüllen können.
Eine pädagogische Einrichtung benötigt eine interne Richtlinie (Konzept oder Minimalstandards), wie Medikamente gerichtet, kontrolliert und abgegeben werden. Apotheken und Pflegefachpersonen beraten Institutionen bei der Erarbeitung von solchen Richtlinien, wie auch bei Fragen zur optimalen Einhaltung der Standards.
Nach Art. 13 Abs. 1 lit. f. der Verordnung über die Betreuung und Pflege von Personen in Heimen und privaten Haushalten (Heimverordnung; HEV) des Kantons Bern vom 18.09.1996 müssen Kinder- und Jugendheime einem Bewilligungsgesuch Angaben und Unterlagen über das System der ärztlichen und pharmazeutischen Versorgung beilegen. Damit ist nichts anderes als eine Richtlinie, wie oben beschrieben, gemeint. Die bewilligungserteilende Behörde sollte Ihnen über eine solche Richtlinie nähere Auskunft geben können.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Karin Anderer
Luzern, 13.2.2018
Sehr geehrte Frau Anderer
Herzlichen Dank für die hilfreichen Informationen.
Freundliche Grüsse
Jörg Pieper