Unserem Sozialdienst liegt folgendes Fallbeispiel vor und wir haben folgende Fragen dazu:
Ein Kind wurde im März 2017 von der KESB Uri durch eine Kindesschutzmassnahme in ein Jugendheim fremdplatziert. Die Eltern sind sehr wohlhabend und wären gemäss unserem provisorisch berechneten erweiterten SKOS-Budget in der Lage, sämtliche Platzierungskosten selbst zu tragen. Die Eltern haben dem Sozialdienst nun einen «Deal» vorgeschlagen. Sie würden 75% der Platzierungskosten selbst tragen. Die restlichen 25% soll die Gemeinde bezahlen, ohne dass eine Sozialhilfeschuld entsteht. Aus unserer Sicht, kann dieser «Deal» vonseiten Sozialdienst jedoch aufgrund des Subsidiaritätsprinzips und der Rechtsgleichheit nicht eingegangen werden. Die Eltern müssten aus unserer Sicht gemäss Art. 276 Abs. 2 ZGB die Platzierungskosten vollumfänglich übernehmen.
Wie sehen Sie das? Liegen wir dabei richtig oder haben wir etwas wichtiges übersehen? Gäbe es eine rechtliche Grundlage, die diesen «Deal» erlauben würde?
Wie sähe die Situation aus, wenn unsere Vorgesetzten mit den Eltern trotzdem einen entsprechenden Deal eingehen würden? Also dass die Gemeinde 20% der Kosten über Gemeindekasse ohne Sozialhilfeschuld übernehmen würde. Wäre dies rechtmässig? Gibt es entsprechende Bundesgerichtsentscheide über die teilweise Übernahme von Unterhaltsbeiträgen? Würden wir ein Risiko eingehen, vor Gericht zu verlieren, wenn wir den Eltern die gesamten Kosten in Rechnung stellen würden?
Wenn der Sozialvorsteher bzw. die Gemeinde diesen «Deal» eingehen würde, müsste die Gemeinde dann ggf. mit rechtlichen Konsequenzen (im Sinne von Art. 312 oder Art. 314 StGB) rechnen? Inwiefern könnten wir Sozialarbeiterinnen vom Sozialdienst dahingehend belangt werden, wenn solch ein «Deal» in unserem Wissen eingegangen würde?
Besten Dank bereits im Voraus für Ihre Bemühungen und für Ihre Rückmeldungen.
Freundliche Grüsse
Sozialdienst Urner Oberland
Linda Bissig
Frage beantwortet am
Urs Vogel
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Erwägungen:
Vorab stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es sich um eine ausserkantonale Platzierung handelt, welche über die interkantonale Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) abgewickelt wird. Ist dies der Fall, so hat der Kanton Uri gegenüber der Institution eine sogenannte KüG zu leisten und die entsprechende Leistungsabgeltung gemäss Art. 19 IVSE (in Kraft im Kanton Uri seit1.1.2006 für Bereiche A und B) zu leisten.
Gemäss Kommentar der SODK zur IVSE (siehe dazu http://www.sodk.ch/fileadmin/userupload/Fachbereiche/Behindertenpolitik/IVSE/Regelwerk/0215.10.01KommentarzurIVSEdt.pdf) setzt sich die Leistungsabgeltung aus einem Subventionsteil und dem Beitrag der Unterhaltspflichtigen (BU) zusammen (siehe dazu Kommentar SODK zur IVSE, Seite 13, Art. 22). Nur der BU hat einen Fürsorgecharakter. Die kantonale Tarifhoheit soll nach Möglichkeit respektiert werden. Im Rahmen des interkantonalen Austausches ist die Festlegung eines Betrages innerhalb einer bestimmten Bandbreite (aktuell zwischen Fr. 25 und 30 pro Tag) jedoch unerlässlich, weil gemäss Art. 22 Absatz 2 IVSE der nicht geleistete BU der Sozialhilfe belastet werden kann. Wenn dies nicht wäre, könnte die Vereinbarung durch sehr hohe BU ausgehöhlt und die Idee der IVSE, einander Beiträge zu vergüten, die Subventions- und nicht Fürsorgecharakter haben, würde verlassen. Wie hoch dieser Betrag des Unterhaltspflichtigen (BU) aktuell im Kanton Uri ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Erstes Fazit: Handelt es sich um eine IVSE Platzierung so kann, mindestens nach dem Sinn und Zweck der IVSE von den Eltern, auch wenn sie vermögend sind, kein höherer Betrag eingefordert werden, als der nach IVSE vorgesehene BU, also ein Betrag von Fr. 750 – 900.-- pro Monat zuzüglich Nebenkosten wie Kleider, KK-Prämien etc.). Im Kanton Uri bestehen dazu, im Unterschied zu anderen Kantonen (z.B. Kanton Luzern: Gesetz über soziale Einrichtungen SEG SRL Nr. 894, Art. §§ 27 und 31) keine ausführenden kantonalen gesetzlichen Grundlagen. So wie ich das Sozialhilfegesetz des Kantons Uri interpretiere übernimmt die Gemeinde den Subventionsanteil der Platzierungskosten und allenfalls über die Sozialhilfe den Elternbetrag, sollten die Eltern dies nicht leisten können (siehe dazu Art. 22 Abs. 2 IVSE).
Handelt es sich bei der behördlich angeordneten Platzierung (Entzug Aufenthaltsbestimmungsrecht und Platzierung durch die KESB, Art. 310 ZGB) um eine Nicht-IVSE Platzierung (also einer nicht anerkannten oder einer innerkantonalen Institution), so erfolgt die Finanzierung grundsätzlich über das zuständige Gemeinwesen, welches automatisch subsidiär durch den Entscheid der KESB gebunden ist. Es handelt sich dabei um direkte Leistungen aus Sozialhilfegesetz, welche beim Kind anfallen. Gestützt auf Art. 5 Abs. 1 SHG UR, der für den Unterstützungswohnsitz auf das Bundesgesetz über die Zuständigkeit Unterstützung Bedürftiger verweist, hat das fremplatzierte Kind einen eigenen Unterstützungswohnsitz am letzten gemeinsamen Wohnsitz mit den Eltern (Art. 7 Abs. 3 lit. c ZUG) und ist als separates Unterstützungsdossiers oder mindestens als separate Rechnung im Dossier der Eltern zu führen. Mit der Finanzierung der Fremdplatzierung geht der Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber seinen Eltern vollumfänglich auf das Gemeinwesen über (Art. 289 Abs. 2 ZGB). Da der Unterhaltsanspruch auch die Finanzierung von Kindesschutzmassnahmen beinhaltet (Art. 276 Abs. 2 ZGB), hat die Gemeinde nun die Möglichkeit, den Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern geltend zu machen, sei dies mittels Vereinbarung oder durch den Klageweg über das zuständige Gericht. Die Beteiligung der Eltern richtet sich nach der Leistungsfähigkeit der Eltern (Art. 285 Abs. 1 ZGB). Sind die Eltern nicht genügend leistungsfähig, so stellt der Restbetrag Sozialhilfe an das Kind dar. Solche Leistungen sind nicht rückerstattungspflichtig. Eine Pflicht des Kindes, die an ihn ausgerichteten Leistungen zurückzuerstatten stünde im Widerspruch zu Artikel 27 UNO-KRK, die von der Schweiz ratifiziert wurde.
Zweites Fazit: Ist die IVSE nicht anwendbar, so erfolgt die Finanzierung von behördlich angeordneten Fremdplatzierungen grundsätzlich über die Sozialhilfe. Das Kind bildet dabei eine eigene Unterstützungseinheit, der Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern geht auf das Gemeinwesen über, welche die Kosten der Kindesschutzmassnahmen gegenüber diesen geltend machen kann.
Im Kanton Uri sind für die Bemessung der Sozialhilfe grundsätzlich dir SKOS-Richtlinien wegleitend. Der Regierungsrat bestimmt entsprechende Abweichungen. Die SKOS Richtlinien sehen unter F.3.3 vor, dass im Rahmen der Sozialhilfe der Elternbeitrag zu berechnen ist. Das Sozialhilfehandbuch des Kantons (P01) wiederholt diesen Grundsatz. Zudem sind im kantonalen Finanz- und Lastenausgleich nur diejenigen Kosten anrechenbar, welche gemäss den Ansätzen der SKOS ausgerichtet wurden (Art. 15 Abs. 2 FilaG). Mithin hat die Berechnung des Elternbeitrages sich somit gemäss den gesetzlichen Grundlagen des Kantons Uri nach den SKOS-Richtlinien zu orientieren (Art. 28 Abs. 1 SHG UR). Die SKOS Richtlinien lassen aber bei der Berechnung des Elternbeitrages bei der Fremdplatzierung den entscheidenden Behörden einen grossen Ermessenspielraum, welcher den Verhältnissen der Eltern (emotionale und finanziell) gebührend Rechnung zu tragen hat. Im Weiteren ist anzufügen, dass die Gemeinde den Elternbeitrag nicht einseitig festlegen kann, sondern sich mit den Eltern einigen muss. Findet keine Einigung statt, muss die Gemeinde den Klageweg beschreiten. Das birgt entsprechend ein Prozessrisiko mit sich und kann mit Kostenrisiken verbunden sein. Es kann somit nicht generell gesagt werden, dass eine Einigung der Gemeinde mit den Eltern in Bezug auf die Kostenübernahme (75/25 oder 80/20 oder anderes Verhältnis) unzulässig ist. Notwendig ist jedoch, dass sachliche Gründe gegeben sind, welche ein Abweichen von allgemeinen Kriterien der Festlegung des Unterhaltes begründen, damit eine rechtsgleiche Behandlung gewährleistet werden kann. Dies kann im Rahmen der Kurzbeantwortung und ohne Kenntnisse der Dossiers vorliegend nicht beurteilt werden.
Betreffend der Frage «….dass die Gemeinde 20% der Kosten über Gemeindekasse ohne Sozialhilfeschuld übernehmen würde…» ist wie oben bereits ausgeführt zu bemerken, dass Leistungen von wirtschaftlicher Sozialhilfe an das Kind keine rückerstattungspflichtigen Leistungen darstellen und somit auch keiner Rückerstattungsverfügung zugänglich sind.
Ob das Verhalten der Gemeinde oder des Sozialvorstehers als strafbare Handlungen im Sinne eines Amtsmissbrauches (Art. 312 StGB) oder ungetreuer Amtsführung (Art. 314 StGB) zu qualifizieren wären, lässt sich nur im konkreten Einzelfall und unter Berücksichtigung aller strafrechtlichen Elemente beurteilen, was den Strafverfolgungsbehörden obliegt und nicht im Rahmen einer Anfrage im Forum beurteilt werden kann. Ebenso kann die Frage einer allfälligen Strafbarkeit durch Mitwissen nicht beantwortet werden, was ja nur dann relevant wäre, wenn überhaupt eine strafbare Handlung vorliegen würde. Aus meiner Sicht steht aber die Finanzverantwortung im Sozialwesen der Sozialhilfebehörde zu (Art. 10 Abs. 1 lit. c SHG UR), Sie als Mitarbeitende des Sozialdienstes sind nicht dazu berufen, Handlungen der Sozialhilfebehörde zu überwachen. Sie können die betreffenden Personen auf ihre Sichtweise und Interpretation sowie da aus ihrer Sicht richtige Vorgehen hinweisen, die Ausübung des Ermessenspielraums aber ist Sache der entscheidenden Instanz (vorliegend wohl die Sozialhilfebehörde), die auch die entsprechende Verantwortung zu übernehmen hat.
Kulmerau, 25. April 2017
Urs Vogel