Sehr geehrter Herr Mösch
Wir hatten mal einen urteilsunfähigen Patienten (volljährig), dessen Vater darauf bestand, dass wir (also die Klinik) die IV-Anmeldung für seinen Sohn machen. Der Sohn war aufgrund seiner psychischen Verfassung nicht in der Lage, den Sinn und Zweck einer IV-Anmeldung zu verstehen und wurde von den behandelten Ärzten als urteilsunfähig eingeschätzt. Der Vater (selbst auch Rechtsanwalt) beharrte darauf, dass die Klinik die IV-Anmeldung tätigen kann. Wir weigerten uns mit der Begründung, dass wir nicht die gesetzliche Vertretung sind. Der Vater sah dies ganz anders. Seiner Meinung nach sind wir als Klinik berechtigt (sogar verpflichtet!) bei urteilsunfähigen Personen, die wichtige Angelegenheiten aufgrund ihres Schwächezustandes nicht erledigen können, Anmeldungen wie eine IV-Anmeldung oder eine Anmeldung für den Sozialhilfebezug für den Patienten zu erledigen. Für und nicht mit. Wir waren anderer Meinung. Parallel war eine Abklärung im Erwachsenenschutz bei der zuständigen KESB offen (Beistandschaft). Wer hat nun recht?
Wichtig; es geht hier nicht um die Früherfassung, sondern um die offizielle IV-Anmeldung. Ebenfalls war eine Anmeldung für den Sozialhilfebezug nötig.
Wir schätzen Ihre Rückmeldung sehr und wünschen Ihnen eine schöne Vorweihnachtszeit!
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Entschuldigen Sie bitte die krankheitsbedingte verspätete Antwort.
Art. 66 IVV regelt die Legitimation zur Anmeldung:
1 Befugt zur Geltendmachung des Anspruchs sind der Versicherte, sein gesetzlicher Vertreter sowie Behörden oder Dritte, die den Versicherten regelmässig unterstützen oder dauernd betreuen.
1bis Wird der Anspruch nicht durch die versicherte Person geltend gemacht, so hat sie die in Artikel 6a IVG erwähnten Personen und Stellen zu ermächtigen, den Organen der Invalidenversicherung alle Auskünfte zu erteilen und alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die für die Abklärung von Leistungs- und Regressansprüchen erforderlich sind.
2 Ist die versicherte Person urteilsunfähig, so erteilt ihre gesetzliche Vertretung die in Artikel 6a IVG erwähnte Ermächtigung durch Unterzeichnung der Anmeldung.
Im Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI), gültig ab 1. Januar 2022, Stand 1. Januar 2024 finden sich in Ziffer 4.2.2. weitere Ausführungen über die Legitimation.
Behörden oder Dritten werden in der KSVI folgendermassen definiert:
KSVI Rz 1028: Behörden und Dritte, die eine versicherte Person (vP) in Erfüllung einer konkreten Unterhaltspflicht regelmässig unterstützen oder dauernd betreuen, haben ein eigenes Anmelderecht zum Bezuge von IV-Leistungen an die vP (Art. 66 Abs. 1 IVV). Die Rz. 5065 ist anwendbar.
KSVI Rz 1029: Regelmässige Unterstützung oder dauernde Betreuung liegt vor, wenn sich Behörden oder Dritte seit längerer Zeit im Sinne einer umfassenden und finanziellen Fürsorge regelmässig einer vP annehmen. Dritte sind namentlich Ehegatten, Eltern, Grosseltern, Kinder, Enkel oder Geschwister der vP. Zu den anmeldeberechtigten Behörden im Sinne von Rz. 1028 zählen die Sozialhilfebehörden (Urteil des BGer vom 8. Juni 2005, I 113/05).
Die Klinik ist somit nicht zur Anmeldung legitimiert, da sie kein solche umfassende Fürsorge erbringt. Der Vater dürfte hingegen legitimiert sein.
Nach KSVI Rz. 1033 kann bei einer urteilsunfähigen vP, die weder Angehörige noch einen gesetzlichen Vertreter oder eine Vertreterin hat, die Anmeldung ausnahmsweise auch durch betreuende Personen erfolgen (Art. 66 IVV, vgl. Rz. 5066). Hier ist ein Angehöriger, nämlich der Vater, vorhanden, der zur Anmeldung legitimiert ist.
Da die KESB bereits ein Abklärungsverfahren eröffnet hat, hätte die Klinik auf die Notwendigkeit einer zeitnahen Anmeldung bei der IV hinweisen können. Der in der Sache urteilsunfähige Sohn ist nicht vertreten und der zur Vertretung berechtigte Vater hat eine möglicherweise ablehnende Haltung (Art. 443 ZGB; 448 Abs. 2 ZGB). Die KESB kann, wo notwendig, vorsorgliche Massnahmen anordnen (Art. 445 ZGB), damit die Anmeldung rascher erfolgen könnte.
Was die Sozialhilfe betrifft, wäre zu klären gewesen, ob der Klient diesbezüglich urteilsfähig war; in diesem Fall hätte er die Anmeldung selbst vornehmen können. Da in der Sozialhilfe die Offizialmaxime gilt, muss die Behörde ausnahmsweise auch ohne Antrag tätig werden, sobald sie hinreichende Kenntnisse über eine Notlage erhält; die Klinik hätte also mit einer Meldung (Meldung einer Notlage durch Dritte) über die - zumindest plausibilisierte - Bedürftigkeit des Klienten das Sozialhilfeverfahren bereits ausgelöst. Selbstverständlich hätte der Klient oder seine gesetzliche Vertretung bei weiteren Abklärungen mitwirken müssen (vgl. dazu Guido Wizent, Sozialhilferecht, 2. Auflage 2023, N 1073).
Ich hoffe, die Angaben sind hilfreich.
Ich wünsche Ihnen alles Gute im 2024 und grüsse Sie freundlich.
Karin Anderer