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Keine Zustimmung für Ritalineinnahme durch Kindsvater

Veröffentlicht:
12.12.2022
Kanton:
Uri
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich bin Beiständin eines Mädchens Jg. 11/2009. Sie wünscht sich seit längerem, dass sie ihre ADHS (bestätigte Diagnose) mit Ritalin behandeln darf. Sie und ihre Mutter sind einverstanden mit der Behandlung. Ich als Beiständin bin es auch. Der Vater (lebt in Deutschland) ist vehement dagegen. Das war auch der Grund, dass der Arzt mit der Ritalin Behandlung nicht starten konnte. Er wollte die Zusicherung des Vaters oder der KESB. Es besteht eine gemeinsame elterliche Sorge. Das Mädchen hatte eine Zeit lang Ritalin genommen. Sie konnte sich in der Schule wesentlich besser konzentrieren. Dieses Ziel will sie wieder erreichen.

Ich habe etwas recherchiert, um herauszufinden, inwieweit das Mädchen für sich entscheiden darf, ohne dass es noch die Zustimmung des Vaters braucht. Sie kann beurteilen, was Ritalin ist, wie es bei ihr wirkt und warum sie es will (bessere Konzentration in der Schule, Leistungsverbesserung etc.). Ich habe herausgefunden, dass dieser Entscheid ein relativ höchstpersönliches Recht ist. Trotzdem scheint die rechtliche Lage in der Schweiz nicht ganz klar. Die Schulsozialarbeitern, hatte dazu bei der Fachstelle Kinderschutz  eine anonyme Fallberatung. Dort habe man ihr mitgeteilt, dass es sich bei der Ritalin-Einnahme um ein höchstpersönliches Recht handle worüber ein urteilsfähiges Kind selber entscheiden darf. Diesbezüglich schätze ich das Mädchen als urteilsfähig ein.

Ich wollte nun anfragen, ob wir tatsächlich die Zustimmung des Vaters brauchen, welche er niemals erteilen wird? Wenn ja, welche Möglichkeiten hätte das Mädchen? Müsste sie einen Kinderanwalt nehmen? Oder müssten wir eine einschränkende elterliche Sorge betr. Ritalin für den Vater beantragen? Wäre das nötig?
Danke für die Rückmeldung meiner Anfrage.


Freundliche Grüsse
 

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi

Medizinische Behandlungen gehören zu den relativ höchstpersönlichen Rechten. Nach Art. 19c Abs. 1 ZGB üben urteilsfähige Minderjährige höchstpersönliche Rechte selbstständig aus.

Nach Art. 16 ZGB sind Kinder urteilsfähig, wenn sie die Fähigkeit haben, vernunftgemäss zu handeln. Primär ist es Sache des behandelnden Arztes, die Urteilsfähigkeit in Bezug auf die konkrete Behandlung, hier also die Verschreibung von Ritalin, festzustellen.

In den Medizin-ethischen Richtlinien «Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis», von 2019 finden Sie wertvolle Hinweise zur Urteilsfähigkeit. Die Richtlinien konzentrieren sich auf die Evaluation der Urteilsfähigkeit im medizinischen Kontext. In Ziffer 3.3. «Kinder und Jugendliche» heisst es: «Das Alter, mit dem Urteilsfähigkeit für eine bestimmte medizinische Entscheidung erreicht wird, hängt neben persönlichen Faktoren stark davon ab, wie komplex die Fragestellung ist und wie nahe bzw. fern sie zur Lebenswelt und Lebenserfahrung des Kindes steht. Die Urteilsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen einzuschätzen, erfordert entwicklungspsychologische Kompetenz.»

Auch Kinder sind darauf angewiesen, dass sie von der Arztperson auf verständliche Art und Weise über die Behandlung aufgeklärt werden. Kenntnisse über die Diagnose und den Verlauf der Behandlung tragen dazu bei, dass sie selbstbestimmt entscheiden können.

Wieso der Arzt die Zusicherung des Vaters oder der KESB verlangt, geht aus Ihrer Anfrage nicht hervor. Das 13jährige Mädchen hat bereits positive Erfahrungen mit der Ritalin-Behandlung gemacht. Sie wünscht sich nun eine erneute Behandlung mit Ritalin, was als Indiz für das Vorliegen von Urteilsfähigkeit zu werten ist. Offenbar hat das Mädchen auch einen Leidensdruck, sie will in der Schule mithalten können.

Ich empfehle Ihnen, im Interesse des Mädchens, mit dem Arzt Rücksprache zu halten. Wenn das Mädchen als urteilsfähig einzustufen ist, dann benötigt es weder die Zustimmung des Vaters, noch der Mutter, noch die der KESB (siehe dazu BGE 134 II 235 E. 4.1). Das urteilsfähige Kind handelt gestützt auf Art. 19c Abs. 1 ZGB selbstständig im Bereich der höchstpersönlichen Rechte. Der Arzt hat das Mädchen ist in seiner Persönlichkeit und Selbstbestimmung ernst zu nehmen, auch gegen den Willen des Vaters; da darf er sich nicht vom Vater einschüchtern lassen. Erst recht nicht, wenn das urteilsfähige Mädchen leidet und der Arzt die Behandlung als medizinisch indiziert erachtet. Beurteilt er hingegen das Mädchen als urteilsunfähig bzw. an der Grenze der Urteilsfähigkeit, dann ist sein eingeschlagener Weg richtig. Der Arzt trägt das Risiko, wenn sich die Behandlung im Nachhinein als widerrechtlich erweist, weil die Zustimmung des Vaters bzw. der KESB fehlte.

Den Eltern mit der gemeinsamen elterlichen Sorge obliegt es, gemeinsam für ihre Kinder Entscheidungen zu treffen. Die KESB ist keine Schlichtungsinstanz bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge (BK-Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 296 ZGB, N 23 ff.).

Wenn der Arzt die Behandlung nicht ohne Zustimmung des Vaters vornehmen kann oder will, ist eine Gefährdungsmeldung an die KESB zu prüfen. Nur wenn die verweigerte Zustimmung des Vaters eine Kindeswohlgefährdung darstellt, darf die KESB eingreifen. Der Vater muss gute Gründe für die Zustimmungsverweigerung anführen können, sonst überschreitet er seine Vertretungsbefugnis. Er hat, nach Art. 272 ZGB, die Persönlichkeit seiner Tochter zu achten, nach Art. 301 ZGB das Kindeswohl ins Zentrum zu stellen und in wichtigen Entscheidungen, hier im Behandlungsentscheid, auf die Meinung seiner Tochter entsprechend ihrer Reife Rücksicht zu nehmen (vgl. zu den Schranken der elterlichen Sorge BK-Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 296 ZGB, N 26 ff.).

Die KESB kann, wenn die Uneinigkeit der Eltern zu einer Kindeswohlgefährdung führt, nach Art. 307 ff. ZGB, das Erforderliche anordnen (BK-Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 296 ZGB, N 25). Denkbar wäre, dem Vater das Vertretungsrecht in medizinischen Belangen zu entziehen und es der Mutter alleinig zu überlassen. Möglich wäre auch, dem Vater das Vertretungsrecht in medizinischen Belangen zu entziehen und es der Beiständin zu übertragen.

Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 15.12.2022

Karin Anderer