Grüezzi mitenand
Wir stellen fest, dass je nach Kanton unterschiedlich beurteilt wird, wenn es darum geht junge Erwachsene mit einer Behinderung (teil oder ganz urteilungsfähig) einen elterlichen Beistand zu geben. Oft übernehmen die Eltern ohne ein eigentliches Mandat der KESB, auch wenn klar ist, dass die jungen Erwachsenen nicht selber beurteilen können, was die Eltern für sie alles managen. Gibt es hier genauere Empfehlungen? Ganz herzlichen Dank für die Antwort.
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Art. 389 ZGB regelt unter dem Randtitel „Subsidiarität und Verhältnismässigkeit“ Folgendes:
1 Die Erwachsenenschutzbehörde ordnet eine Massnahme an, wenn:
1. die Unterstützung der hilfsbedürftigen Person durch die Familie, andere nahestehende Personen oder private oder öffentliche Dienste nicht ausreicht oder von vornherein als ungenügend erscheint;
2. bei Urteilsunfähigkeit der hilfsbedürftigen Person keine oder keine ausreichende eigene Vorsorge getroffen worden ist und die Massnahmen von Gesetzes wegen nicht genügen.
2 Jede behördliche Massnahme muss erforderlich und geeignet sein.
Die KESB ordnet einerseits nur Massnahmen an, wenn die Familie, andere nahestehende Personen oder private oder öffentliche Dienste die ausreichende und angemessene Unterstützungs- und Hilfeleistungen nicht bieten können. Andererseits gehen Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung und gesetzliche Vertretungsrechte einer Erwachsenenschutzmassnahme vor. Es ist auch möglich, dass eine Person Vollmachten bzw. Aufträge erteilt hat, die über die Urteilsunfähigkeit hinaus andauern, also bei Eintritt der Urteilsunfähigkeit nicht erlöschen. Solche Aufträge behalten ihre Gültigkeit (vgl. zum Ganzen, Anderer, Die Meldepflicht des Beauftragten nach Art. 397a OR - Eine Orientierung für die Treuhandpraxis, in: Treuhand und Revision, Jahrbuch 2019, Andrea Mathis, Rolf Nobs (Hrsg.), Zürich, Kissing, Paris, Amsterdam, Wien 2019, S. 7–24).
Handlungsfähig ist, wer volljährig und urteilsfähig ist (Art. 13 ZGB). Die Urteilsfähigkeit ist eine Komponente der Handlungsfähigkeit und sie wird in Art. 16 ZGB definiert. Die Urteilsfähigkeit ist relativ: Es handelt es sich um die Fähigkeit zu vernunftgemässem Verhalten, bezogen auf einen bestimmten Zeitpunkt und ein bestimmtes, rechtlich relevantes Verhalten (Aebi-Müller, Handlungsfähigkeit und Erwachsenenschutz, in: Brennpunkt Familienrecht, Festschrift für Thomas Geiser zum 65. Geburtstag, Zürich/St.Gallen 2017, S. 1-21, S. 5).
Das Vorliegen einer Behinderung lässt in aller Regel keinen Schluss auf eine Urteilsunfähigkeit zu. Ob eine Person urteilsunfähig ist, ist in jedem Einzelfall von der KESB abzuklären. „Zwischen klarer und «knapper» Urteilsunfähigkeit liegt eine grosse Spannbreite an Sachlagen, die eine differenzierte und einzelfallbezogene Betrachtung erfordern“ (Aebi-Müller, S. 19). Die Relativität der Urteilsfähigkeit führt somit zwingend zu unterschiedlichen (Einzelfall-)Beurteilungen.
Die Urteilsunfähigkeit ist nicht zu verwechseln mit fehlenden Spezialkenntnissen. Der Auftraggeber, hier also das volljährig gewordene Kind mit Behinderung, muss das Auftragsverhältnis in den Grundzügen verstehen, nicht aber die Spezialitäten und Finessen der Details (Anderer, S. 13). Dass die Person „nicht selber beurteilen kann, was die Eltern für sie managen“, gehört inhaltlich zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit (vgl. zur Bedeutung und Beurteilung der Urteilsfähigkeit die Richtlinie der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW „Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis“ vom Januar 2019 und das Hilfsmittel zur Evaluation und Dokumentation der Urteilsfähigkeit, auf https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html). Die KESB wird in Zweifelfällen eine ärztliche Beurteilung oder ein Gutachten einholen.
Hinweis: Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) verpflichtet den Vertragsstaat Schweiz, geeignete Massnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen. Kontrovers diskutiert wird, inwiefern beiständliches Vertretungshandeln gemäss der BRK überhaupt noch zulässig ist (vgl. dazu Rosch Daniel, Erwachsenenschutz zwischen Selbstbestimmung, Supported Decision Making und Substitute Decision Making, in: FamPra.ch 2019, S. 105-118).
Fazit: Ob für junge Erwachsene mit einer Behinderung eine Beistandschaft errichtet wird, ist eine Einzelfallentscheidung. Die KESB hat sich an Art. 389 ZGB zu orientieren und die Urteilsfähigkeit abzuklären, ebenso das Vorhandensein der Unterstützung durch die Familie.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 17.10.2022
Karin Anderer