Lieber Peter
An der SV-Tagung in Basel vom 3. Dezember 2021 hast du die 10jährige Aufenthaltsdauer und explizit den «zulässigen» Aufenthalt erwähnt. In Art. 5 ELG wird dieser als «rechtmässig» formuliert. (WEL ab RZ 2310.01 von mir aus etwas widersprüchlich zwischen gewöhnlichem Aufenthalt und tatsächlicher, rechtmässiger Anwesenheit).
Die AK spricht einem Klienten, welcher jetzt die AHV-Rente bekommt (aufgrund geleisteter AHV-Beiträge von 1987 bis 1994 ) die 10jährige Aufenthaltsdauer ab bzw. betrachtet diese als unterbrochen bis September 2018. Ihm war 2015 die humanitäre Aufenthaltsbewilligung (nach Asylverfahren ab 1999 und ab 2005 prozeduraler, geduldeter Aufenthalt) nicht gewährt und die Ausreise damals per Februar 2015 angesetzt worden. Das Migrationsamt bestätigte, dass er von 199 bis 2015 ohne Aufenthaltsbewilligung aber legal in der Schweiz gewesen sei. Danach sei er bis zur Verfügung der vorläufigen Aufnahme wegen Unzumutbarkeit der Wegweisung im September 2018 illegal in der Schweiz gewesen, jedoch in Kenntnis der Migrationsbehörde, welche den Vollzug der Wegweisung auf Grund des Gesundheitszustandes nicht durchführen konnte. (Der Klient hatte 2011 und 2012 FFE und seither behördliche Auflagen mit Unterbringung).
Die AK stützt sich meiner Meinung nach zu Unrecht lediglich auf den als "illegal" erwähnten und nicht den tatsächlichen Aufenthalt ab, wenn gleichzeitig von behördlicher Seite dieser Aufenthalt aus gesundheitlichen Gründen geduldet, mit Auflagen versehen und kontrolliert wurde und wie explizit in der Bestätigung formuliert ist, die Wegweisung deswegen nicht vollzogen werden konnte.
Ich habe in Bezug auf den gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz auch den Kommentar Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Soziale Sicherheit, Band XIV (Hrs. Ulrich Meyer) konsultiert und nichts gefunden, das für die Unterbrechung der Karenzfrist sprechen würde.
Was meinst du zum geduldeten Aufenthalt ohne Aufenthaltsbewilligung – unterbricht der unter diesen Umständen die Karenzfrist oder nicht? Falls nicht – wie kann ich sonst noch argumentieren?
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag, schön von Dir zu lesen!
Wenn wie im vorliegenden Fall AusländerInnen nicht Flüchtlinge/Staatenlose sind und nicht aus einem Staat stammen, mit dem die Schweiz ein Sozialversicherungsabkommen hat, dass eine ausseordentliche Rente vorsieht, so besteht eine Karenzfrist von 10 Jahren für den EL-Anspruch zu einer gesprochenen AHV-Rente.
Die Ausländerin/der Ausländer muss also ununterbrochen während zehn Jahren unmittelbar vor dem Zeitpunkt, ab dem EL verlangt wird, sich in der Schweiz aufgehalten haben (Art. 5 Abs. 1 ELG)
Diese Karenzfrist beginne, sobald die Ausländerin/der Ausländer Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hat.
Wohnsitz und Aufenthalt müssen ausländerrechtlich rechtmässig sein. Zeiten, während denen sich eine Person illegal in der Schweiz aufgehalten hat, werden bei der Aufenthaltsdauer nicht angerechnet, bzw. führen zu einem Unterbruch der Karenzfrist.
Das Bundesgericht hat im Urteil 9C_423/2013 vom 26.8.2014 (italienisch verfasst) eine bereits in den 1960er Jahren entstandene Rechtsprechung bestätigt. In Erwägung 4.2 argumentiert das Bundesgericht, dass es ungerecht wäre, Personen, die ihrer Ausreisepflicht nachkommen, zu benachteiligen gegenüber Personen, welche dieser Pflicht nicht nachkommen. Es verweist auf frühere unveröffentlichte Entscheide (Urteile H 261/95 vom 25. Juni 1997 Empf. 3b; P 42/90 vom 8. Januar 1992 E. 3b, H 12/80 vom 9. Februar 1981 E. 1 und I 49/71 vom 8. Juni 1971 E. B).
Bei dieser Ausgangslage wird es in deinem Fall schwierig.
Es kann versucht werden zu argumentieren, wie du es vorsiehst, dass die Ausreise im vorliegenden Fall gar nicht möglich bzw. unzumutbar war. Beweismässig wäre idealerweise darzulegen, dass medizinisch auch eine freiwillige Ausreise gar nicht möglich war. Was schliesslich auch bestätigt wird dadurch, dass sein Aufenthalt faktisch geduldet wurde. Vor diesem HIntergrund besteht kein sachlicher Grund ihn nicht gleichzustellen mit anderen Personen, die in der Schweiz Wohnsitz und Aufenthalt haben.
Ich würde auch eine Analogie machen zur Situation von längeren Auslandaufenthalten, die dann NICHT schon nach drei Monaten zu einer Unterbrechung von Karenzfristen führen, wenn die Gesundheitssituation oder höhere Gewalt eine Rückreise verunmöglichen (Art. 1b i.V.m Art. 1a Abs. 4 lit. b ELV). Dort wird in solchen Fällen ein Unterbruch des Wohnsitzes erst angenommen, wenn mehr als 365 Tage eine Rückkehr in der Schweiz nicht möglich ist.
Auch dort wird die Besonderheit, dass gesundheitliche Gründe eine Rückkehr verunmöglichen, berücksichtigt.
Ich würde mit diesen Elementen eine Einsprache oder Beschwerde versuchen zu begründen.
Ich wünsche Dir gute Weihnachtstage und en guete Rutsch!
Peter
Nachtrag:
Türkei hat SV-Abkommen mit der Schweiz, er war damals als Asylsuchender und jetzt als vorläufig Aufgenommener da. Er hat aufgrund eigener AHV-Beiträge aus früherem Aufenthalt als Asylsuchender und Ehe/Splitting (bis 1994) jedoch eine ordentliche AHV-Rente. Das SV-Abkommen mit der Türkei ändert dennoch nichts an den 10 Jahren Karenzfrist, oder?
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag. Sorry für die Wartezeit. Ich habe die Nachfrage erst jetzt gesehen: Das Sozialversicherungsabkommen mit der Türkei führt dazu, dass, bei Vorliegen der übrigen Anspruchsvoraussetzungen, ein EL-Anspruch bereits nach fünf Jahren Karenzfrist (Aufenthalt und Wohnsitz in der Schweiz) entstehen kann. Bis zum Ablauf der 10 Jahre ist der Anspruch aber beschränkt auf höchstens den Betrag einer ausserordentlichen Rente (vgl. WEL, Stand 1.1.2022, Rz. 2230.01 und Rz. 2420.02; siehe auch die dortige Fussnoten 62). Das sind für 2022: CHF 1593/Monat.
Freundlicher Gruss
Peter Mösch Payot