Für einen urteilsunfähigen Mann mit einer körperlichen und geistigen Beeinträchtigung führen wir eine Beistandachaft nach Art. 394 Abs. 1 i.V.m. Art. 395 Abs. 1 ZGB.
Die Beitandsperson ist unter anderem beauftragt:
- den Mann in sämtlichen Bereichen der Personensorge zu vertreten.
Dieser Auftrag beinhaltet gemäss Praxis unserer KESB auch die Aufgabe die betroffene Person bei medizinischen Angelegenheiten zu vertreten.
Nun stellt sich die Frage, ob die Beistandsperson somit auch einer Organspende zustimmen kann (gemäss Transplantationsgesetz).
Weiter stellt sich die zweite grundsätzliche Frage, ob die Praxis unserer KESB richtig ist, den Auftrag zur Vertretung bei medizinischen Massnahmen im Auftrag "in sämtlichen Bereichen der Personensorge" subsummieren kann, oder ob dieses Vertretungsrecht explizit im Auftrag der Beistandsperson genannt werden muss.
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi
Das Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz) vom 8. Oktober 2004, SR 810.21 regelt, unter welchen Voraussetzungen Organe, Gewebe oder Zellen zu Transplantationszwecken verwendet werden dürfen. Art. 8 des Transplantationsgesetzes regelt die Voraussetzungen der Entnahme bei verstorbenen Personen:
1 Organe, Gewebe oder Zellen dürfen einer verstorbenen Person entnommen werden, wenn:
a. sie vor ihrem Tod einer Entnahme zugestimmt hat;
b. der Tod festgestellt worden ist.
2 Liegt keine dokumentierte Zustimmung oder Ablehnung der verstorbenen Person vor, so sind ihre nächsten Angehörigen anzufragen, ob ihnen eine Erklärung zur Spende bekannt ist.
3 Ist den nächsten Angehörigen keine solche Erklärung bekannt, so können Organe, Gewebe oder Zellen entnommen werden, wenn die nächsten Angehörigen einer Entnahme zustimmen. Sie haben bei ihrer Entscheidung den mutmasslichen Willen der verstorbenen Person zu beachten.
3bis Die Anfrage an die nächsten Angehörigen und deren Zustimmung können erst erfolgen, nachdem entschieden worden ist, die lebenserhaltenden Massnahmen abzubrechen.
4 Sind keine nächsten Angehörigen vorhanden oder erreichbar, so ist die Entnahme unzulässig.
5 Der Wille der verstorbenen Person hat Vorrang vor demjenigen der nächsten Angehörigen.
6 Hat die verstorbene Person die Entscheidung über eine Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen nachweisbar einer Person ihres Vertrauens übertragen, so tritt diese an die Stelle der nächsten Angehörigen.
7 Eine Erklärung zur Spende kann abgeben, wer das 16. Lebensjahr vollendet hat.
8 Der Bundesrat umschreibt den Kreis der nächsten Angehörigen.
Art. 3 der Verordnung über die Transplantation von menschlichen Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsverordnung) vom 16. März 2007, SR 810.211 legt den Kreis der nächsten Angehörigen fest:
Nächste Angehörige nach Artikel 8 Absatz 8 des Transplantationsgesetzes sind:
a. Ehefrau oder Ehemann, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner, Lebenspartnerin oder Lebenspartner;
b. Kinder, Eltern und Geschwister;
c. Grosseltern und Grosskinder;
d. andere Personen, die der verstorbenen Person nahestehen.
Der Kreis «nächste Angehörige» ist nicht deckungsgleich mit der «zur Vertretung im medizinischen Bereich berechtigten Person» nach dem Erwachsenenschutzrecht (so explizit im Zusammenhang mit der Revision des Transplantationsgesetzes von 19. Juni 2015, BBl 2013 2317, 2341 f.).
Eine Beistandsperson (ausgenommen Personen nach lit. a-c) kann m.E. nur dann als nächste Angehörige qualifiziert werden, wenn sie der verstorbenen Person nahesteht. «Das Entscheidungsrecht der nächsten Angehörigen beruht auf ihrer seelisch-geistigen Beziehung zur verstorbenen Person und auf ihrem Pietätsgefühl» (BBl 2013 2317, 2342). Bei einer Berufsbeistandsperson dürfte die Beziehung kaum diese Qualität erreichen, sie wäre im Einzelfall vom medizinischen Team abzuklären (Richtlinien der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) «Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantationen und Vorbereitung der Organentnahme», 2. Auflage 2019, Ziff. 2.5.).
Art. 8 Abs. 3 Transplantationsgesetz legt fest, dass die nächsten Angehörigen, stellvertretend für die verstorbene Person einer Entnahme zustimmen oder sie abzulehnen können, «der mutmassliche Wille der verstorbenen Person ist dabei in jedem Fall zu beachten» (BBL 2002, 29, 139). Unter dem Begriff des mutmasslichen Willes ist das zu verstehen, was die Person gewollt hätte, wenn sie sich frei und in voller Kenntnis der Umstände äussern könnte (Arztrecht, Aebi-Müller/Fellmann/Gächter/Rütsche/Tag, Bern 2016, § 5 N 107). Ich gehe davon aus, dass in Ihrem Fall keine Erklärung vorliegt und die Person auch nicht in der Lage ist, und es nie war, sich zu einer Organspende zu äussern. Somit kann nach Art. 8 Abs. 3 Transplantationsgesetz keine Zustimmung erfolgen, da ein mutmasslicher Wille nicht ermittelt werden kann; das unabhängig davon, wer die «nächste Angehörige Person» ist. Eine Organspende ist in so einem Fall nicht möglich. In den erwähnten Richtlinien der SAMW wird in Ziff. 2.4. und in Anhang B auf das Abstellen des mutmasslichen Willens verwiesen. Widersprüchlich dazu ist allerdings Ziff. 2.2., wo es heisst, dass Angehörige «einer Organentnahme jedoch auch dann zustimmen (können), wenn sie den mutmasslichen Willen des Patienten nicht kennen».
Anders sieht es aus, wenn es um die, nach Art. 10 Transplantationsgesetz, vorbereitenden medizinischen Massnahmen geht, die ausschliesslich der Erhaltung von Organen, Geweben oder Zellen dienen. Lässt sich der mutmassliche Wille der spendenden Person nicht eruieren, so können die nächsten Angehörigen den Massnahmen zustimmen, wenn diese für eine erfolgreiche Transplantation von Organen, Geweben oder Zellen unerlässlich sind und für die spendende Person nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sind.
Art. 12 ff. regeln die Entnahme von Organen, Geweben oder Zellen bei lebenden Personen. Bei urteilsunfähigen Personen ist eine Entnahme verboten, nur ausnahmsweise ist die Entnahme von regenerierbarem Gewebe oder Zellen zulässig.
Am 15. Mai 2022 hat sich das Volk für die Widerspruchslösung bei der Organspende ausgesprochen. Wer nach dem Tod keine Organe und Gewebe spenden möchte, muss dies künftig festhalten. Die neue Regelung wird frühestens im Jahr 2025 in Kraft treten. Bis dahin gilt weiterhin die erweiterte Zustimmungslösung, wo bei einer fehlenden Erklärung die nächsten Angehörigen angefragt werden (vgl. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/medizin-und-forschung/transplantationsmedizin.html).
Was die Vertretung bei medizinischen Massnahmen betrifft, dient es der Rechts- und Verkehrssicherheit, wenn das Vertretungsrecht im Dispositiv explizit erwähnt ist. Hier wird regelmässig mit Personen zusammengearbeitet, die dem Berufsgeheimnis unterstehen, was Klarheit über die Rechte und Pflichten erfordert. Da es sich bei gesundheitlichen Belangen in der Regel um relativ höchstpersönliche Rechte handelt, muss auch für die betroffene Person klar sein, dass das Vertretungsrecht nur bei Urteilsunfähigkeit ausgeübt werden kann; das ergibt sich aus der Umschreibung des Aufgabenbereichs. Auch kann es nach Art. 378 ZGB andere Vertretungspersonen geben. Ich empfehle, den Entscheid anhand der KOKES-Praxisanleitung auszugestalten, der Aufgabenbereich kann durchaus generell umschrieben sein (vgl. KOKES-Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht, Rz. 5.76.) Ausgenommen davon ist die umfassende Beistandschaft.
Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 16.8.2023
Karin Anderer