Guten Tag miteinander
Ich betreue sozialhilferechtlich eine 53-jährige Frau. Eine erste IV-Anmeldung erfolgte im November 2014. Mit Verfügugn vom 5.10.2016 wurde der Anspruch auf eine IV-Rente mit einem IV-Grad von 36% abgelehnt (aufgrund altem Berechnungsmodell für Teilzeiterwerbstätige).
Die Klientin hat sich im Dezember 2017 bei der IV-Stelle gemeldet und um eine Neu-Beurteilung gebeten (aufgrund des neuen Berechnungsmodell). Die IV-Stelle hat dies zuerst als Revisionsgesuch behandelt, kurz darauf eine Neuanmeldung gefordert. Mir ist nicht klar, ob bei einer Ablehnung der Rente aufgrund eines zuniedrigen IV-Grades eine Neuaufnahme des Falles als Revision gilt oder als Neuanmeldung? Ich gehe davon aus, dass dies einen Unterschied macht bzgl. dem Beginn der Anspruchsberechtigung, oder?
Mit dem IV-Vorbescheid vom 24.04.2019 geht die IV-Stelle von einer erheblichen Einschränkung in Haushalt und Erwerbstätigkeit aus. Anteil Tätigkeiten: Erwerbsarbeit 70%, Haushalt 30%. Das psychiatrische Gutachten (vom 28.01.2019) erklärt eine Arbeitsfähigkeit von ca. 30%, mit der Möglichkeit einer max. Steigerung auf 55% innerhalb von 6 Monaten mithilfe von geeigneten beruflichen Massnahmen. Die Klientin sei aber nicht motiviert dazu. Die Psychiaterin und der Hausarzt attestieren eine Arbeitsunfähigkeit von 100%, seit 1.4.2018.
Nun hat die IV-Stelle im Vorbescheid folgendes festgehalten:
Ab 1.07.18 IV-Grad von 72 % ganze Rente
Ab 1.10.18 IV-Grad von 48%
Ab 1.01.19 Viertelsrente
Ich verstehe diesen Entscheid nicht. Eine Senkung des IV-Grades per 1.10.18, die Senkung der Rente aber erst per 1.01.2019? Im Psychiatrischen Gutachten von Ende Januar 2019 wird von einer 30%-igen Arbeitsfähigkeit ausgegangen, welche erhöht werden könnte innerhalb von 6 Monaten mit geeigneten beruflichen Massnahmen – und doch senkt die IV-Stelle den IV-Grad bereits auf Oktober 2018?
Die Klientin will einen Einwand gegen den IV-Vorbescheid anbringen. Bezüglich dem Vorgehen ist sie unsicher, ob es besser ist, wenn sie den Einwand bereits mit einem Anwalt verfasst, da sie befürchtet, dass wenn sie Punkte beim Einwand vergisst, sich dies nachteilig auswirkt bei einer allfälligen Beschwerde vor Obergericht. Wie schätzen Sie dies ein?
Ich hoffe, ich konnte den Fall und meine Fragen dazu einigermassen nachvollziehbar schildern und danke Ihnen bereits im voraus für Ihre Rückmeldung.
Freundliche Grüsse
Mara Berthold
Frage beantwortet am
Daniel Schilliger
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag Frau Berthold
Vorab bitte ich um Entschuldigung für die späte Antwort. Wir hatten sozusagen einen Osterstau bei der Beantwortung der Fragen.
Gemäss Art. 87 Abs. 3 IVV wird eine Wiederanmeldung (nach einer Ablehnung) von der IV nur geprüft, wenn glaubhaft gemacht wird, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat. Bei einer Wiederanmeldung ist also die gleiche Vorgehensweise wie bei einer Revision einer laufenden Leistung (Art. 17 ATSG) zu wählen. Man muss aufzeigen, dass sich seit dem letzten IV-Entscheid der Sachverhalt (z.B. die gesundheitliche, erwerbliche oder möglicherweise auch familiäre Situation) erheblich verändert hat. Erheblich heisst leistungsbeeinflussend.
Im Urteil «Di Trizio» (Beschwerde Nr. 7186/09) hat der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens) verurteilt. Hintergrund war die diskriminierende Invaliditätsbemessung nach der gemischten Methode. Diese findet Anwendung bei Teilzeiterwerbstätigen, die daneben einen Haushalt führen bzw. Familienarbeit verrichten und trifft zu über 90% Frauen.
Gestützt auf dieses Urteil wurden die Regeln der gemischten Methode überarbeitet und sind seit 1.1.2018 in neuer Form in Kraft (Art. 27bis IVV). Neu ist vor allem, dass das Valideneinkommen auch bei Teilerwerbstätigkeit auf eine Vollerwerbstätigkeit hochgerechnet wird (Art. 27bis Abs. 3 lit. a IVV). Die anschliessende Gewichtung bleibt unverändert (Art. 27bis Abs. 3 lit. b IVV). Näheres dazu finden Sie im Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) 3097ff..
Die laufenden Renten werden seit 1.1.2018 automatisch überprüft und an die neue Berechnungsweise angepasst. Die IV hat aber keine Kenntnis von den Fällen, die wegen der alten Berechnungsweise, keine Rente erhielten. Gemäss den Übergangsbestimmungen (zu finden am Schluss der IVV) wird in den Fällen, wo die Anwendung der gemischten Methode zu einer Ablehnung geführt hatte, eine Wiederanmeldung geprüft, wenn die neue Berechnungsweise voraussichtlich zu einem Rentenanspruch führt. Sie konnten in diesem speziellen Fall also eine Wiederanmeldung machen, ohne eine tatsächliche Veränderung aufzeigen zu müssen, sofern die neue Berechnungsweise allein zu einem IV-Grad über 40% führt.
Wenn noch keine Leistungen geflossen ist, hat die Wiederanmeldung grundsätzlich die gleiche Wirkung wie die erste Anmeldung. Insbesondere muss für Renten das Wartejahr (Art. 28 IVG) erfüllt sein. Demgegenüber werden laufende Leistungen in der Regel anpasst, sobald eine Veränderung drei Monate andauert (detaillierter: Art. 87ff und vor allem 88bis IVV). So ist zu erklären, dass im vorliegenden Fall der IV-Grad per Oktober gesenkt, aber die Rente erst drei Monate später anpasst wird. Ob dieser Zeitpunkt stimmt ist tatsächlich fraglich, wenn das Gutachten von einer Prognose ausgeht. Die sechs Monate sind sicher abzuwarten.
Es braucht nicht unbedingt einen Rechtsanwalt für Einwände. Hilfreich ist aber, wenn der Einwand von einer Person verfasst wird, die Kenntnisse über die rechtlichen bzw. technischen Aspekte einer Invaliditätsbemessung hat. Oft wird zu stark medizinisch argumentiert (und zu wenig technisch), obwohl gerade die medizinischen Aspekte in Anbetracht der vollen Beweiskraft von Gutachten oft kaum zu widerlegen sind.
Freundlicher Gruss
Daniel Schilliger