Sehr geehrte Damen und Herren
Ich begleite einen Patienten, welcher in der Schweiz lebte und den Schweizer Pass besitzt. Vor 7 Jahren zog er mit seiner Lebenspartnerin nach Montenegro. Dort lebt er jetzt mit ihr.
Aufgrund einer anstehenden OP (der Patient leidet an Parkinson, ist klar nicht mehr arbeitsfähig!) kam er zurück in die Schweiz und meldete sich bei seiner Kollegin an. Die Anmeldung bei der Schweizer Krankenkasse erfolgte per 01.04.2022. Zur Zeit ist er bei uns in der Rehabilitation.
Eine IV-Anmeldung ist durch den Patienten nun erfolgt und seine Kollegin hat die Vollmacht, alles mit der IV zu regeln. Nach der Rehabilitation will er zurück nach Montenegro gehen und das IV-Verfahren in der Schweiz mit Hilfe seiner Kollegin weiterlaufen lassen. Falls die IV Untersuchungen/Abklärungen machen will, möchte er dafür in die Schweiz reisen. Er wird während des IV-Verfahrens ins der Schweiz angemeldet bleiben.
Frage: ist es möglich, das IV-Verfahren laufen zu lassen, wenn er zwar in der Schweiz angemeldet ist, aber eigentlich in Montenegro weilt? Was hat er zu befürchten, sollte die IV dahinter kommen?
Herzlichen Dank für die Bearbeitung meiner Anfrage und freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag!
Ihre Frage verlange verschiedene Ausführungen. Einerseits zur Frage, ob bei Wohnsitz im Ausland ein Anspruch bestehen kann (A) und andererseits wie die Mitwirkungspflicht während des Verfahrens zu beurteilen ist, und ob dabei ein Wohnsitz in der Schweiz notwendig ist (B).
Auf jeden Fall ist jeweils als Wohnsitz der zivilrechtliche Wohnsitz gemeint im Sinne von Art. 23 ZGB: Also der Lebensmittelpunkt mit der Absicht des dauernden Verbleibens. Was nach den gesamten Umständen zu eruieren ist. Vgl. Rz. 4101 ff. RWL (Stand 1.1.2022).
A) Versicherte Personen müssen für einen Anspruch auf Leistungen der IV im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles die versicherungsmässigen Voraussetzungen gemäss Art. 6 IVG erfüllen.
a) Für eine allfällige ordentliche IV-Rente müssen gemäss Art. 36 IVG beispielsweise vor Eintritt der Invalidität drei Jahre Beiträge geleistet worden sein, weil eine Versicherungsunterstellung im Sinne von Art. 1a AHVG bestand. Eine Invalidität gilt dabei jeweils als eingetreten, wenn die für die Begründung eines Anspruchs erforderliche Art und Schwere erreicht wurde. Für die Rente bedeutet das gemäss Art. 28 IVG zum Beispiel, dass die Erwerbsfähigkeit nicht mehr durch Eingliederungsmassnahmen erhalten oder verbessert werden kann, und dass er ohne wesentlichen Unterbruch für ein Jahr zu mind. 40% arbeitsunfähig war und nach Ablauf des Jahres zu mind. 40% erwerbsunfähig ist.
Bei Eingliederungsmassnahmen (Art. 9 IVG) hingegen ist relevant, ob jemand der obligatorichen Versicherung Unterstellt ist oder nicht.
Vergleiche zur Frage der Versicherungsmässigen Voraussetzungen:
Sonderregeln wären auch zu beachten, wenn es sich um einen Doppelbürger handeln würde (er also neben dem CH-Pass noch einen Pass etwa aus Montenegro hätte), zumal die Schweiz mit Montenegro ein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen hat. Hier gilt nach der Rechtsprechung der Grundsatz der tatsächlich vorwiegenden Staatsangehörigkeit im Zeitpunkt der Beanspruchung der Leistung (Urteil des Bundesgerichtes 9C_723/2011 E. 5 vom 2. Juli 2012). Insoweit könnte dem Wohnsitz bzw. dem dauernden Aufenthalt im Zeitpunkt der Beanspruchung der Leistung eine zentrale Rolle zukommen.
b) Ob diese Voraussetzungen hier für die Leistungsansprüche bestehen hängt davon ab, um welche Leistung es geht, und ob zuvor die versicherungsmässigen Voraussetzungen erfüllt werden (insb. Versicherungspflicht wegen Erwerbstätigkeit oder Wohnsitz und bei der Rente die dreijährigen Beitragszeit).
Für den Anspruch auf Rente etwa würde es genügen, wenn er als Schweizer während der Zeit als CH-Bürger VOR der Invalidität drei Jahre Beiträge bezahlt hatte. Ist eine Person allerdings bei der erstmaligen Einreise - oder bei der Einbürgerung - in die Schweiz bereits 40% invalid, ist der rentenspezifische Versicherungsfall bereits eingetreten. Nehmen mit der Zeit die Beeinträchtigungen zu und schwindet die Erwerbsfähigkeit, liegt nach der Rechtsprechung kein neuer Versicherungsfall vor, wenn die Erhöhung des Invaliditätsgrades eine Folge einer Verschlimmerung der ursprünglichen Gesundheitsbeeinträchtigung ist (dazu BGE vom 30. Mai 2006; I 76/05; BGE vom 21. November 2006; I 620/05, BGE 136 V 369). Ev. können aber Versicherungszeiten einer zuvor bestehenden anderen Staatsangehörigkeit gemäss Sozialversicherungsabkommen angerechnet werden.
B) Während der Abklärung des Anspruchs bzw. der Ansprüche auf IV ist kein (zivilrechtlicher) Wohnsitz in der Schweiz zwingend notwendig.
a) Für versicherte Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland ist ausser bei Grenzgängern die IV-Stelle für Versicherte im Ausland zuständig (Art. 56 IVG, Art. 40 Abs. 1 Bst. b IVV; vgl. auch Art. 43 IVV). Halten sich jedoch Versicherte für längere oder unbestimmte Zeit in der Schweiz auf, ohne hier Wohnsitz zu haben, so wird der Fall von der zuständigen kantonalen oder gemeinsamen IV-Stelle erledigt (Art. 40 Abs. 2bis IVV).
b) Da vorliegend der Betroffene im Ausland wohnt, ist auch das IV-Gesuch bei der IV-Stelle für Versicherte im Ausland einzureichen. Siehe https://www.zas.admin.ch/zas/de/home.html.
c) Gibt die versicherte Person während des Verfahrens ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz auf, so muss sie dies melden. Und es geht die Zuständigkeit auf die IV-Stelle für Versicherte im Ausland über. Siehe https://www.zas.admin.ch/zas/de/home/la-cdc/organisation/office-ai-pour-les-assures-residant-a-l-etranger.html
d) Für das Verfahren für Versicherte im Ausland gelten besondere Regeln: So muss die IV-Stelle für Versicherte im Ausland keine Abklärung vor Ort und Stelle durchführen . Der vP wird stattdessen ein Fragebogen zum Ausfüllen zugestellt (vgl. Rz. 3043 KSVI (Stand 1.1.2022); Rz. 3601 KSIR (Stand 1.1.2022). Auch für die medzinischen Abklärungen gelten Sonderregeln. Vgl. dazu das Handbuch SuisseMED@P unter https://www.suissemedap.ch/default.aspx.
C) Es ist sehr zu raten, die Tatsache des Wohnsitzes im Ausland offen zu deklarieren und zu melden. Ebenso die Rückkehr nach Montenegro. Weil nur so auch die besonderen Verfahrensregeln für die Abklärung zum Tragen kommen können und auch die Frage der versicherungsmässigen Voraussetzungen korrekt geprüft werden können (siehe oben unter A). Wird das verheimlicht, so kann dies je nach Konstellation als Versuch eines Sozialleistungsbetrugs strafrechtliche Folgen mit sich bringen. Oder zumindest im Verfahren der Abklärung erhebliche Nachteile mit sich bringen. So die Annahme der Verletzung der Mitwirkungspflicht, wenn bei vermeintlichem Wohnsitz in der Schweiz die hier verlangten Abklärungen nicht wahrgenommen werden.
Ich hoffe, das dient.
Prof. Peter Mösch Payot