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IV-Leistungen mit Krankheitsursache im Herkunftsland

Veröffentlicht:
16.03.2021
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrte Damen und Herren, 

Gerne möchte ich an meine Frage anknüpfen, welche ich am 12.03.2021 / 17:57 an den Fachbereich Arbeitsrecht geschickt habe. Je nach Zuordnung  meiner Frage, müsste man die beiden Anfragen zusammennehmen:

Hier meine Frage z.Hd. dem Bereich Sozialversicherungsrecht und der Fallbeschrieb:

Ich belgleite einen 40-Jährigen Herrn aus der Türkei mit einem B-Ausweis (mit Erwerbstätigkeit) aufgrund eines Familiennachzuges. Die Einreise in die CH erfolgte nach der Heirat im 2016. Der Mann befindet sich in der Scheidung.

Er arbeitete vier Jahre lang in der CH im 100% Pensum in einem türkischen Markt, wurde aus verschiedenen Gründen gekündigt und hat nun seit dem 1.12.2020 Aspruch auf Arbeitslosentaggeld. Der Herr hat seit seiner Kindheit Hüftprobleme und hinkt offensichtlich. Die Ursache war ein Unfall in der Türkei, der mangels Geld nicht behandelt wurde (kein Geburtsgebrechen). Seinen 100% Job in der CH schaffte er nur knapp, weil er viele Schmerzmedikamente einnahm. Mit der Zeit führte die Situation nebst anderen Faktoren zu einer psychischen Dekompensation. Gemäss Angabe des Patienten, könne er nur 60% in leichten körperlichen Tätigkeiten arbeiten. 

Anspruch auf IV-Leistungen?

Der Mann weist eine Beitragszeit in der Schweiz von 4 Jahren auf. Die körperlichen Einschränkungen bestehen seit seiner Kindheit vor der Einreise in die Schweiz. Seine Mutter ist gestorben und sein Vater hat die Türkei nie verlassen. Somit erfüllt der Mann beim Eintritt der Invalidität weder die Voraussetzungen für eine ordentliche noch ausserordentliche Rente. 

Gibt es unter der Voraussetzung der 4 Jahre Beitragszeit Möglichkeiten für Leistungen der IV, daher für berufliche Massnahmen oder eine Rente?

Freundliche Grüsse. 

Ph. Meier

Frage beantwortet am

Peter Mösch Payot

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Sehr geehrter Herr Meier

 

1. Grundsätzlich gilt, dass entscheidend ist, wann die leistungsbegründende Invalidität eingetreten ist. Dabei ist zu beachten, dass dieser Begriff der «leistungsbegründenden Invalidität» je nach Leistung der IV variieren kann.

2. Gemäss Art. 4 Abs. 2 IVG (Invalidenversicherungsgesetz) gilt die Invalidität als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Für die Rente gilt die Invalidität als eingetreten, wenn eine versicherte Person während mindestens eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch (30 Tage) zu durchschnittlich mindestens 40% arbeitsunfähig gewesen ist und nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40% invalid ist (Art. 28 Abs. 1 lit. b und c IVG).

In Ihrem Fall ist also mit Blick auf die Rente entscheidend, ob die Invalidität in diesem Sinne schon in der Türkei eingetreten war oder erst in der Schweiz eingetreten ist.

Die Tatsache, dass er im Weiteren die Beitragszeit von drei Jahren in der Schweiz nach dem Beginn der Invalidität erfüllt hat ändert nichts an der Notwendigkeit dieser Anspruchsvoraussetzung.

3. Damit ein Gesuch auf eine IV-Rente erfolgreich sein kann,müsste damit argumentiert werden können, dass die gesundheitliche Situation und die entsprechende Erwerbsunfähigkeit (erst) während des Wohnsitzes in der Schweiz eine für die IV relevante Invalidisierung zur Folge hatte. Man müsste die Eigenständigkeit der in der Schweiz aufkommenden Beschwerden/Dokompensation etc. aufzeigen können. Diese Argumentation müsste mit Arztberichten dokumentiert werden können.

4. Analoges gilt für allfällige weitere Leistungen: Bzgl. Eingliederungsmassnahmen oder Hilfsmitteln müsste dargestellt werden, dass die Notwendigkeit hierfür erst in der Schweiz eingetreten ist. Bzgl. Hilflosigkeit müsste belegt werden können, dass die dort anspruchsbegründende Hilflosigkeit erst in der Schweiz aufgetreten ist.

5. Nichts anderes ergibt sich aus dem hier wohl anwendbaren Sozialversicherungsabkommen der Schweiz mit der Türkei (SRL 0.831.109.763.1).

Dessen Art. 9 sieht vor, dass türkischen Staatsangehörige, die in der Schweiz wohnen, ein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der schweizerischen Invalidenversicherung zusteht, wenn sie unmittelbar vor dem Eintritt der Invalidität (das heisst hier: Zeitpunkt, in dem sich der Bedarf an Eingliederungsmassnahmen zeigt) während mindestens eines vollen Jahres Beiträge an die schweizerische Versicherung entrichtet haben.

Die in der Türkei begründete Invalidität könnte im Weiteren eventuell einen Anspruch aus der türkischen Rentenkasse begründen. Dabei könnten eventuell Beitragszeiten in der Schweiz angerechnet werden (vgl. Art. 13 des SV-Abkommens mit der Türkei).

6. Möglich ist im Weiteren ein Anspruch auf eine rentenlose EL wegen des Anspruchs auf eine ausserordentliche Rente gemäss Art. 11 des Sozialversicherungsabkommens mit der Türkei. Dafür müsste er fünf Jahre unterbrochen Aufenthalt und Wohnsitz in der Schweiz haben und hätte dann beim Vorliegen der weiteren Voraussetzungen einen Anspruch auf eine rentenlose EL. Dieser Anspruch ist bei der EL-Stelle geltend zu machen.

Ich hoffe, das dient Ihnen.

Prof. Peter Mösch Payot