Guten Tag
Kürzlich habe ich erfahren, man könne bei Erhalt eines IV Vorbescheids statt Einwand zu erheben, das Gesuch zurückziehen. Dies damit die IV keinen definitiven Entscheid fällen könne und man zu einem späteren Zeitpunkt wieder eine Anmeldung machen könne ohne die Hürden einer Zweitanmeldung (ev besser aufgegleist). Ich habe das weder in der Praxis noch einer Weiterbildung jemals gehört. In welchen Fällen macht das Sinn? Wird dieses Vorgehen "aktiv praktiziert"?
Freundliche Grüsse
Daniela Wyttenbach
Frage beantwortet am
Daniel Schilliger
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag Frau Wyttenbach
Die vP oder ihre Vertretung kann die Anmeldung zurückziehen oder auf Leistungen verzichten, sofern nicht schutzwürdige Interessen der vP selbst oder anderer beteiligter Personen dem entgegenstehen (Art. 23 Abs. 1 und 2 ATSG). Die Rückzugserklärung bzw. der Leistungsverzicht muss schriftlich (d.h. mit Unterschrift) und vorbehaltlos erfolgen. Auf die Durchführung von beruflichen Eingliederungsmassnahmen kann grundsätzlich nicht verzichtet werden (vgl. Urteil des BGer 9C_576/2010 vom 26. April 2011, Erw. 4.3.3).
Wird dem Rückzug der Anmeldung stattgegeben, so ist dies der vP schriftlich zu bestätigen (Art. 23 Abs. 3 ATSG). Kann dem Rückzug der Anmeldung nicht stattgegeben werden (Vorliegen schutzwürdiger Dritt- oder Eigeninteressen), so ist dieser Entscheid verfügungsweise festzuhalten (KSVI Rz 1024ff.).
Nach einer rechtskräftigen Ablehnung von Renten oder beruflichen Massnahmen, wird auf ein neues Gesuch nur eingetreten, wenn aufgezeigt werden kann, dass sich der Sachverhalt seit dem letzten Entscheid (mit eingehender Prüfung) verändert hat (Art. 87 Abs. 3 IVV). Wenn nun ein Gesuch zurückgezogen wird, ergeht kein materieller Entscheid und ein nächstes Gesuch wäre wie ein erstes Gesuch zu behandeln. Das ist einfacher und spricht theoretisch also für einen Rückzug, sobald sich ein negativer Entscheid abzeichnet.
In der Praxis ändert ein Rückzug aber oft wenig. Denn wenn nach einem Rückzug ein neues Gesuch eingereicht wird, wird die IV auf die bisherigen Abklärungen abstellen und grundsätzlich (wieder) ablehnen. Das Vorgehen ist zwar formell einfacher, tatsächlich aber doch ähnlich. Ich muss letztlich wiederum aufzeigen, was sich verändert hat, seit den Abklärungen der IV. Immerhin sind die bisherigen Aspekte alle weiterhin relevant und müssen für den neuen Entscheid berücksichtigt werden. Während bei einem neuen Antrag nach Ablehnung im Prinzip nur die neuen Aspekte entscheidend sind.
Es sei denn, ich habe gute Argumente, die gegen den IV-Entscheid sprechen. Die hätte ich dann aber auch schon beim ersten Entscheid vorbringen können.
Taggeldversicherungen, ALV und evtl. auch Sozialhilfe sperren sich zudem wahrscheinlich gegen einen Rückzug.
Ein Rückzug kann hilfreich sein, wenn berufliche Massnahmen z.B. eine gewünschte Ausbildung im Moment grad ungünstig sind und wohl abgelehnt würden, weil eine Voraussetzung wie z.B. Konstanz und Stabilität fehlt. Es ist einfacher die beruflichen Massnahmen im richtigen Zeitpunkt zu entscheiden. Aber wie oben erwähnt gilt auch hier: Bei einer Veränderung kann ein neuer Antrag gestellt werden.
Ein Rückzug könnte dann hilfreich sein, wenn ein IV-Grad unter 40% resultiert. Dann wird zwar keine Rente zugesprochen, die vorleistende ALV würde aber trotzdem kürzen. Durch den Rückzug könnte man theoretisch die Kürzung vermeiden. Aber wie oben erwähnt, ginge der Rückzug zu Lasten der ALV und dürfte von der IV daher nicht akzeptiert werden.
Ein Rückzug ist wohl dann sinnvoll, wenn sich während der Anmeldung zeigt, dass die ärztlichen Berichte zu dünn, medizinisch tiefere Abklärungen und bessere Berichte also notwendig sind. So riskiert man nicht eine Ablehnung, die das Krankheitsbild nur halb erfasst und hat dann mit einem neuen Gesuch die Möglichkeit, dass wirklich alle Aspekte offen gewürdigt werden.
Ich sehe also in einzelnen Fällen schon Vorteile in einem Rückzug. Diese sind aber meines Erachtens nicht entscheidend. Ich bin aber gespannt ob ein Leser oder eine Leserin dazu weitere Erfahrungen oder Überlegungen einbringen kann.
freundlicher Gruss
Daniel Schilliger
Guten Tag Herr Schilliger
Besten Dank für die Anwort. Würde man bei einem Rückzug allenfalls auch den Anspruch auf eine mögliche BVG Leistung verlieren, da ev bei einer neuen IV Anmeldung keine Anstellung und damit keine PK mehr vorhanden ist? Oder könnte man weiterhin mit BVG Art 23 a argumentieren, falls die AUF durchgehend war und es keine andere Anstellung gab?
Freundliche Grüsse
Daniela Wyttenbach
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Wyttenbach
Gerne beantworte ich Ihre zusätzliche Frage.
Für den Leistungsanspruch bei der Pensionskasse ist relevant, dass die Arbeitsunfähigkeit eintritt und sinnfällig wird (also erkennbar nach aussen) während der Zeit der Versicherungsunterstellung bei einer Pensionskasse. Zum Beispiel also während einer Anstellung.
Und die Ursache dieser Arbeitsunfähigkeit muss nachher für das BVG-Obligatorium zu einer Invalidität führen (also ein Jahr AUF und dann ein dauernder Erwerbsausfall). Dabei bedarf es eines entsprechenden sachlichen und zeitlichen Zusammenhanges zwischen Arbeitsunfähigkeit und Invalidität. Namentlich in aller Regel kein wesentlicher Unterbruch der entsprechenden Arbeitsunfähigkeit.
Im Prinzip ist eine Anmeldung bei der PK für Leistungen unabhängig von der IV-Anmeldung möglich. Aber weil im IV-Verfahren von Amtes wegen die nötigen Abklärungen gemacht werden und PK eh zur Früherfassung eine Meldung machen oder häufig als Mitwirkungspflicht eine Anmeldung verlangen, ist faktisch meist eine IV-Anmeldung vorgehend. Im Prinzip gilt dann hinsichtlich der Feststellungen der IV zum Zeitpunkt des Beginns der Invalidität und zu den gesundheitlichen Folgen auf die Erwerbsunfähigkeit eine Bindungswirkung für die Pensionskasse, soweit diese in das IV-Verfahren einbezogen war.
Mit einem Rückzug des IV-Gesuchs wird die Möglichkeit der entsprechenden Feststellungen und auch der Bindung der PK verhindert.
Für ein späteres Gesuch gelten die oben genannten Ausführungen in der ersten Antwort, analog auch für die Sicherung der Ansprüche bei der Pensionskasse: Ein Rückzug des GEsuches bei der IV hat auch mit Blick auf den Anspruch beider PK den Vorteil und kann sinnvoll sein, wenn noch ärztliche Berichte etc. mit dem zweiten Gesuch eingereicht werden können, die dazu führen, dass das Krankheitsbild ganz erfasst wird und so ermöglichen, dass alle spekte offen gewürdigt werden.
Durch die zeitliche Verzögerung kann sich aber in der PK das Problem stellen, dass eventuell für einige Monate eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund einer früheren gesundheitlichen Problematik nicht mehr ergibt (oder nicht mehr nachweisbar ist), so dass eventuell der sachliche und zeitliche Zusammenhang entfällt, und so die ursprüngliche Pensionskasse für eine später eintretende oder belegbare Invalidität nicht mehr leistungspflichtig ist.
Sie sehen auch durch diese zusätzlichen, BVG-bezogenen Ausführungen, dass die Frage eines Rückzuges eine recht heikle Sache ist, die von komplexen Überlegungen abhängt. Im Zweifel sollte man dies mit einer spezialisierten Fachperson oder -stelle aufgrund des konkreten Dossiers prüfen.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot