Sehr geehrte Damen und Herren
Ein Klient erhielt eine ablehnende IV Verfügung datiert mit 24.07.2019. Darin Die IV schreibt darin, dass beim Versicherten ein Gesundheitsschaden vorliegt, der für berufliche Massnahmen der IV qualifiziert, grundsätzlich ausgewiesen sei.
Der Versicherte hat im 2018 ein Mahn- und Bedenzeitschreiben erhalten indem er darauf aufmerksam gemacht worden ist, dass berufliche Massnahmen nur dann fortgeführt werden können, wenn bestimmte Auflagen erfüllt sind. Mit Entscheid vom 24.07.2019 hält die IV diese Auflagen weiterhin aufrecht:
a.) Drogenabstinenz aller Substanzen von vorerst mind. 6 Monaten mit Urinkontrollenm alle 2 Wochen
b.) Durchführung einer begleitenden Psychotherapie für mind. 6 Monate
c.) Durchführung einer medikamentösen Behandlung des ADHS
d.) enge sozialpädagogische Begleitung.
Weiter schreibt die IV, dass die Kosten für diese Auflagen nicht zu Lasten der IV gehen und dass nach Durchführung dieser Massnahme ein neues Gesuch bei der IV gestellt werden kann.
Nun ist es so, dass unser Klient die Auflagen b.) und d.) erfüllt. Die Auflage a) hat er versucht zu erfüllen, scheint aber nicht in der Lage zu sein seinen Konsum gänzlich einzustellen. Die Auflage c.) hat er gemäss Facharztberichte schon im Kindergarten medikamentös versucht zu behandeln. Entsprechende Medikamente habe er aber nicht gut vertragen. Auch im Erwachsenenalter hat er nun (aufgrund der Auflagen der IV) versucht, medikamentös das ADHS zu behandeln. Er hat aber festgestellt, dass er starke Nebenwirkungen hat. Nun zeigt es sich ablehnend gegenüber weiteren medikamtnösen Behandlungen.
Unsere Fragen:
1. Das IV-Rundschreiben Nr. 395 hält fest, dass die neue Rechtsprechung auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht rechtkräftig erledigten Fälle anzuwenden ist. Diese veränderte Rechtssprechung ist auf den Bundesgerichtsentscheid vom 11. 07.2019 zurückzuführen. Die IV Verfügung unseres Klienten ist datiert mit 24.07.2019.
1.1. D.H., die neue Rechtsprechung hätte hier bereits angewendet werden sollen?
1.2. oder tritt die Praxisänderung erst mit dem IV Rundschreiben datiert mit 28.11.2019 in Kraft?
2. Wiedererwägung bildet keinen Grund für ein Zurückkommen auf einen bereits rechtskräftigen Entscheid. Auch in dem Fall nicht, wenn die Frage 1.1 bejaht wird?
3. Eventualiter wird eine IV Wiederanmeldung geplant. Falls die IV auf Grund einer anspruchsrelevanten Veränderung des Gesundheitszustandes auf das Revisionsgesuch eintritt, wird sie vermutlich erneut die obigen Auflagen (a-d) sprechen.
3.1. Können diese Auflagen als Schadenminderungspflicht auferlegt werden?
3.2. Sind diese Auflagen verhältnissmässig und zumutbar?
3.3. Kommt der Klient dieser 'Schadenminderungspflicht' nach, wenn er zumindest bestmöglichst versucht die gestellten Auflagen zu erfüllen? resp. diese nur teilweise erfüllt?
Besten Dank im Voraus.
Freundliche Grüsse
S. Hess
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Seline
Gerne beantworte ich eure Fragen in zwei Teilen:
a) Zu Fragen 1 und 2
Aus dem IV-Rundschreiben Nr. 395 und der darin zitierten Rechtsprechung ergibt sich meines Erachtens im Umkehrschluss, dass in Fällen, bei denen wie vorliegend bei Publikation der neuen Rechtsprechung noch kein rechtskräftiger Entscheid vorlag, die neue Praxis anzuwenden ist. Und dass unter unter dem Titel der Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG, oder unter dem Titel der Anpassung an eine geänderte Gerichtspraxis (vgl. BGE 135 V 201 vom 26. März 2009) eine Neubeurteilung stattfinden muss.
Es liegt hier ein Fall vor, wo der Entscheid ursprünglich unrichtig war, weil die Rechtsanwendung fehlerhaft erfolgte.
Ebenso kann auf eine allfällige Neuanmeldung eingetreten werden, ohne dass der Gesundheitszustand oder ein anderer wesentlicher Faktor verändert sein muss (Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV, Art. 17 ATSG, Rz 5012 ff. KSIH).
Ich rate hier also zu einem Wiedererwägungsgesuch, eventualiter zu einer Revision.
Falls vorliegend auch anspruchsrelevante Veränderungen des Gesundheitszustandes vorliegen und gut belegt werden können, so ist in Kombination eventualiter die IV-Wiederanmeldung ratsam. Wichtig ist hierbei, dass eine solche nur zeitlich zu einem verzögerten Anspruch führen kann. Und im Weiteren davon abhängig ist, dass die anspruchsrelevanten Veränderungen gut belegt werden können.
b) Zu Frage 3
Durch die Praxisänderung in BGE 145 V 215 hat sich auch die Ausgangslage für Abstinenzauflagen verändert.
Im Urteil 9C_309/2019 vom 7. November 2019 hat das Bundesgericht präzisiert, dass die Anordnung einer Entzugsbehandlung, damit eine medizinische Begutachtung möglich ist als Teil der Mitwirkungspflicht im Abklärungsverfahren nicht mehr zulässig ist (vgl. Erw. 4.2.2).
Auch wenn dabei noch nicht alles restlos geklärt ist dürften dem gegenüber verhältnismässige Auflagen mit Blick auf die Schadenminderung weiterhin zulässig sein.
Entscheidend ist dabei aber, ob und was für die Betroffenen überhaupt möglich ist. Bei solchen Auflagen kann nämlich nichts verlangt werden, was für den Betroffenen nicht möglich oder medizinisch nicht zumutbar ist (Art. 7a IVG).
Es ist also hilfreich, mit Blick auf jene möglichen Massnahmen, das neue Gesuch mit einem medizinischen Bericht bzgl. der Suchterkrankung und der medizinischen Einschätzung, inwieweit eine Abstinenz oder Teil-Abstinenz etc. überhaupt gesundheitlich möglich oder zumutbar sind, zu ergänzen.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot
Lieber Peter
Besten Dank für deine wertvolle Rückemeldung zum geschilderten Fall. Wir werden somit ein Wiedererwägungsgesuch stellen. Sind wir dazu an eine Frist gebunden? Die Verfügung ist datiert mit 24.07.2019.
Vielen Dank und liebe Grüsse
Seline
Frage beantwortet am
Daniel Schilliger
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag
Es gibt keine Frist für das Wiedererwägungsgesuch. Ich würde trotzdem nicht zu lange warten. Analog zur Frist bei der prozessualen Revion nach Art. 53 Abs. 1 ATSG würde ich innerhalb von 90 Tagen nach Entdecken des Wiedererwägungsgrundes das Gesuch einreichen.
freundlicher Gruss
Daniel Schilliger