Guten Tag
Wir betreuen im Rahmen einer Vertretungsbeistandschaft mit Einkommens- und Vermögensverwaltung einen Klienten in den Bereichen Administration, Finanzen, Wohnen, Gesundheit, Tagesstruktur Arbeit, die Handlungsfähigkeit wurde nicht entzogen.
Der Klient hat eine schwerwiegende psychische Erkrankung und müsste eigentlich eher von der IV als von der WSH unterstützt werden. Diesbezüglich stellt seine massive Suchtproblematik aber eine erhebliche Barriere dar. Bisher wurde noch keine IV-Anmeldung gemacht. Die Suchtproblematik erscheint uns als sekundäres Krankheitsgeschehen. Bei einem IV-Verfahren sehen wir folgende Schwierigkeiten: Akutes Suchtgeschehen, kein behandelnder Psychiater, nur Suchttherapeut und div. Klinikaufenthalte, keine Chance dass Klient allfällige Schadenminderungspflicht (Abstinenz) erfüllen könnte. Auch Eingliederungsversuche würden chancenlos bleiben. Es besteht ein Unvermögen, sich auf eine Therapie einzulassen, zwar existieren viele Berichte, aber keiner, welcher die Suchtproblematik als sekundäres Krankheitsgeschehen einschätzen würde.
Frage: Könnten Sie uns eine Vorgehensweise empfehlen, welche am ehesten sicherstellen könnte, dass eine IV-Anmeldung Chance auf eine spätere Berentung hätte? Wir haben uns überlegt einen Gutachter zu beauftragen die spezifischen Fragestellungen zu beantworten. Hätten Sie bspw. einen Fragekatalog, welcher darauf abzielt, heraus zu finden, ob die Suchtproblematik eher ein sekundäres Krankheitsgeschehen ist?
Noch ein paar weitere Angaben:
Langjährige Suchtproblematik insb. Alkohol, Cannabis, bei Gelegenheit auch Kokain, Amphetamine etc., kein fester Wohnsitz, seit Jahren in der Suchtberatung, wirkliche Therapie ist aber nicht möglich.
Diagnose: emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ. Sehr viele freiwillige kurze Klinikaufenthalte. Mehr als 2-3 Wochen war nie möglich.
Eine abgebrochene Langzeit-Suchttherapie und eine abgebrochene stationäre Massnahme nach StGB Art. 60.
Schwierige Kindheit und Jugend.
Finanzen: 100% WSH
Besten Dank und freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Zoppi
Tatsächlich dürfte es sehr schwierig sein, im von Ihnen geschilderten Fall Leistungen der IV, namentlich Rentenleistungen oder Eingliederungsmassnahmen, geltend machen zu können.
Seit BGE 99 V 28 bilden nämlich Drogensucht oder auch Medikamentenabhängigkeit etc. für sich alleine keine Invalidität im Sinne von Art. 7 ATSG und dem IVG.
Dagegen wird sie im Rahmen der Invalidenversicherung relevant, wenn sie eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens ist, dem Krankheitswert zukommt (Vgl. BGE 99 V 28; AHI 2002 S. 28, I 454/99).
Entscheidend ist, ob eine Gesundheitsschädigung besteht, eventuell als Ursache oder als Folge der Sucht, welche ihrerseits invalidisierende Auswirkungen zeigt.
Wo gutachterlich im Wesentlichen nur Befunde erhoben werden, welche in der Drogensucht ihre hinreichende Erklärung finden, ist kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden gegeben. Dies wäre etwa der Fall, wenn davon auszugehen ist, dass ein depressives Zustandsbild bei einer (angenommenen) positiven Veränderung der suchtbedingten psychosozialen Problematik sich wesentlich bessert (Vgl. Urteil I 955/05 vom 6. November 2006 E. 3.3.2).
Reine Suchtfolgen sind IV-rechtlich irrelevant, soweit sie als solche allein leistungsmindernd wirken. Hingegen sind sie IV-rechtlich relevant, soweit sie in einem engen Zusammenhang mit einem eigenständigen Gesundheitsschaden stehen. Dies kann der Fall sein, wenn die Drogensucht - einem Symptom gleich - Teil eines Gesundheitsschadens bildet (BGE 99 V 28 E. 3b). Dafür ist dann Voraussetzung, dass nicht allein die unmittelbaren Folgen des Rauschmittelkonsums, sondern wesentlich auch der psychiatrische Befund selber zu Arbeitsunfähigkeit führt (Urteil I 74/91 vom 6. Dezember 1991 E. 4d, in: ZAK 1992 S. 169; vgl. auch Urteil I 390/01 vom 19. Juni 2002 E. 2b).
Im Weiteren können selbst reine Suchtfolgen invalidisierend sein, wenn daneben ein psychischer Gesundheitsschaden besteht, welcher die Betäubungsmittelabhängigkeit aufrecht erhält oder deren Folgen massgeblich verstärkt (erwähntes Urteil I 74/91 E. 4d). .
(BGer vom 19.8.2013, 9C 856/2012; siehe auch BGer vom 10.4.2013, 9C 701/2012 )
Häufig lassen sich allerdings die Auswirkungen von Gesundheitsschädigungen, unabhängig von der Sucht, oder von Suchtfolgen nicht ohne Weiteres eruieren, so lange die Sucht als solche ihre eigenen Auswirkungen zeigt. Insoweit ist es zulässig Abstinenzauflagen zu machen (vgl dazu Bundesgerichtsentscheid 9C_664/2017 vom 20.3.2018 ).
Im Weiteren sind die Mitwirkungspflichten in der IV zu beachten. Selbst wenn also eine Invalidität überhaupt in Frage kommt, so werden insoweit Eingliederungsmassnahmen geprüft, deren Eignung häufig von Abstinenz abhängt. Soweit diese nicht eingehalten wird und soweit damit die Eignung der Massnahmen scheitert hat der Betroffene Sanktionen bis hin zur Ablehnung der Rente zu erwarten. Ausnahmen könnten höchstens bestehen, wenn fachmedizinisch klar und eindeutig ausgewiesen ist, dass als Teil des Krankheitsbildes eine entsprechende Mitwirkung nicht möglich ist.
Fazit. VOR einer IV-Anmeldung ist hier ein medizinisches Fachgutachten ratsam, welches die Gesundheitsschädigung, die hinter der Sucht steht, klar und eindeutig bezeichnet, bzw. eventuell medizinische Folgeerkrankungen der Sucht klar und eindeutig beschreibt.
Dazu sollten auch soweit möglich gutachterlich die Folgen hinsichtlich der medizinisch-technischen Arbeitsfähigkeit beschrieben werden sowie die Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. Ebenso auf die Möglichkeiten der Wahrnehmung von Terminen und der Teilnahme an Eingliederungsmassnahmen.
Ein genereller Fragebogen besteht nicht, dieser ist individuell zu formulieren. Als Inspiration können die Kriterien in Anhang VI zum Kreisschreiben über die Invalidität und Hilflosigkeit (KSIH; Stand 1.1.2018 ) gelten. Ev. ist es wohl ratsam, zur Formulierung des Auftrages an die Gutachterin oder den Gutachter Beratung seitens der Procap oder von Inclusion Handicap oder eines spezialisierten Anwaltsbüros beizuziehen.
Unabhängig davon sollte aber insb. auch geprüft werden, ob für den Betroffenen nicht aufgrund der Gesundheitsbeeinträchtigung eine Hilflosigkeit in der Alltagsbewältigung besteht. Und somit Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung geltend gemacht werden kann.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot