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Ist eine Franchiseerhöhung seitens eines Sozialdienstes im Rahmen der materiellen Hilfe zulässig?

Veröffentlicht:
09.09.2022
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

Eine psychisch kranke Klientin wurde mit materieller Hilfe unterstützt und hat rückwirkend eine ganze IV-Rente und EL erhalten, weswegen sie von der Sozialhilfe abgelöst werden konnte. Scheinbar ist die Praxis des betreffenden (grossen) Sozialdienstes (KT BE) so, dass sie generell die Franchisen der Klient*innen auf CHF 1'000.00 erhöhen. Die KL ist schon seit vielen Jahren krank und hat viele Krankheitskosten. Es besteht eine von ihr unterschriebene Vollmacht «für die Verwaltung der Krankenversicherung und den Wechsel der Krankenkasse». Der Sozialdienst teilt mit, er habe die KL über die Erhöhung der Franchise informiert. Diesbezüglich steht Aussage gegen Aussage. Ob sie rechtzeitig über die Notwendigkeit der Herabsetzung der Franchise informiert wurde, kann der Soialdienst nicht mehr genau sagen. Der Sozialdienst informiert im Nachhinein auf meine Nachfrage, die Vor- und Nachteile einer Herabsetzung, und ob es sich lohnt, können sich individuell, situativ und von Jahr zu Jahr verändern. Ich bin der Meinung, dass sich eine Erhöhung der Franchise für meine Klientin nie lohnte und dass der Sozialdienst die KK-Angelegenheit der Klientin nicht sorgfältig verwaltet hat, zumal die EL nur CHF 1'000.000 für Franchise u. Selbstbehalt pro Jahr bezahlt. Denken Sie, dass ich falsch liege?

Denken Sie, dass es sich um einen Haftpflichtfall handelt und dass meinerseits weiterer Handlungsbedarf besteht? Falls ja, wie wäre die weitere Vorgehensweise?

Besten Dank!

Freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Art. 8h SHV / BE regelt die wirtschaftliche Hilfe für die obligatorische Krankenversicherung (OKP). Dabei wird im Wesentlichen vorgegeben, dass die ganze Prämie der jeweiligen OKP übernommen wird – unter Anrechnung der individuellen Prämienverbilligung (IPV) -, dies bis Ende des Kalenderjahres, auf das hin die OKP frühestmöglichst gewechselt werden kann (Art. 8a Abs. 1 lit. a SHV / BE). Nach Ablauf dieses Termins gibt Art. 8h Abs. 1 lit. b SHV / BE vor, dass die Sozialhilfe einen Beitrag leistet, welcher der ganzen Prämie für die obligatorische Krankenversicherung innerhalb der fünf günstigsten Krankenkassen bei tiefster Franchise nach Alterskategorie und Prämienregion entspricht. Dabei ist auch die ordentliche Prämienverbilligung anzurechnen.

Der SHV lässt sich demnach entnehmen, dass die Sozialhilfe einen in bestimmter Art und Weise ermittelten Beitrag an die OKP-Prämie gewährt auf Basis der tiefsten Franchise. Falls die Prämie diesen Betrag übersteigt, dann bezahlt sie die effektive Prämie, aber nur bis zum nächstmöglichen Kündigungstermin (falls ein Wechsel wegen Ausständen nicht möglich: dann unbeschränkt). Die Verordnung räumt der Sozialhilfe vom Wortlaut her kein Ermessen ein, den Prämienbeitrag an einer höheren Franchise zu orientieren.

Das BKSE spricht von einem Maximalbetrag, welcher die Sozialhilfe zu übernehmen hat (vgl. letzter Abschnitt von Ziff. 4.1 Stichwort «Krankenversicherung nach KVG»). Nach BKSE kann der Maximalbetrag entweder über ein günstiges Grundversicherungsmodell oder über ein alternatives Versicherungsmodell und/oder bei gutem Gesundheitszustand über eine hohe Franchise eingehalten werden. Dies ist meiner Meinung nach nur insoweit mit Art. 8a Abs. 1 lit. b SHV / BE zu vereinbaren, als es der Klientin zugestanden wird, eine höhere Franchise (oder ein anderes Modell) zu wählen, welche im Rahmen des Maximalbetrages von der Sozialhilfe finanziert werden darf. Meiner Meinung nach räumt die SHV / BE aber nicht der Sozialhilfe das Recht ein, eine tiefere Franchise vorzuschreiben. Eine höhere Franchise sieht das BKSE aber auch nur bei gutem Gesundheitszustand als empfehlenswert an. Bei Klienten mit regelmässigen Gesundheitskosten sollte eine tiefe Franchise angestrebt werden, da ansonsten der Sozialhilfe zu hohe Kosten entstehen und der Klientin im Fall der Ablösung die Verschuldung droht, falls sie die höhere Franchise nicht stemmen kann. Darüber hinaus weist sie einen höheren Saldo bezogener Sozialhilfe aus, welcher der Rückerstattungspflicht unterliegt. 

Im vorliegenden Fall schätze ich das Vorgehen des Sozialdienstes als in mehrfacher Hinsicht kritisch ein:

Es stellt sich die Frage, ob die «Verwaltung» der Krankenkasse den Sozialdienst ermächtigt, auch eine höhere Franchise zu beantragen. Von Seiten der Krankenkasse wurde dies nicht in Frage gestellt. Aber bereits hier lässt sich fragen, ob die Franchiseerhöhung auch zur «Verwaltung» gehört. Dafür müsste der weitere Wortlaut der Vollmacht näher untersucht werden.

Umfasst die Vollmacht eine solche Vertretungshandlung, ist sie dennoch sehr heikel, da die Sozialhilfe in einem Doppelmandat steckt: Einerseits muss sie die Vorschriften der SHV / BE einhalten (d.h. tiefste Franchise), andererseits hat sie nach den Interessen der Klientin zu handeln. Der Sozialdienst muss aufgrund des gesetzlichen Mandats Vorsicht walten lassen, andernfalls er sich vorwerfen lassen muss, dass er aus rein fiskalischen Motiven handelt, was unzulässig wäre. Schon unter diesem Gesichtspunkt erachte ich eine reine Information der gegenüber der OKP eingeleiteten Franchiseerhöhung als ungenügend – vielmehr ist eine ausführliche Aufklärung und Absprache notwendig, auch wenn eine Vollmacht vorliegt. Aus meiner Sicht hilft also nicht, dass der Sozialdienst seinen Angaben zufolge informiert hat. Wenn er die Information ausserdem nicht beweisen kann, geht das zu Lasten von ihm, so dass davon auszugehen ist, dass die Klientin gar nichts davon wusste.

Aus der BKSE geht zudem hervor, dass eine höhere Franchise nur bei gutem Gesundheitszustand von Seiten Sozialhilfe akzeptiert werden sollte. So wie Sie schildern, wurde auch dieser Aspekt ausser Acht gelassen. Gerade im Rahmen des erwähnten Doppelmandats hätte diesem Punkt mehr Gewicht gegeben werden müssen und der Sozialdienst hätte bei der Klientin die tiefste Franchise, wie von der Art. 8a Abs. 1 lit. b SHV / BE vorgeschrieben, beibehalten müssen.

Sie erwähnten, dass der Sozialdienst scheinbar praxisgemäss die Franchisen erhöht, dann weist dies darauf hin, dass fiskalische Motive dahinter stehen und weniger die Interessen der Klienten, was mit der Regelung in der SHV / BE nicht vereinbar ist.

Es gibt demnach einige Hinweise, dass der Sozialdienst nicht korrekt gehandelt hat. In der Tat stellt sich dann die Haftungsfrage. Hier kommen die Regeln des Gemeindegesetzes (Art. 84 Gemeindegesetz) zur Anwendung, da der Sozialdienst der Gemeinde zuzuordnen ist (Art. 17a SHG / BE). Wie ein Haftungsprozess ablaufen würde, sprengt den Rahmen der vorliegenden Beratung. Dafür empfehle ich Ihnen, sich anderweitig rechtlichen beraten zu lassen. Vorgängig wäre aber sinnvoll, sich an die Sozialbehörde zu wenden, welche die Aufsicht über den Sozialdienst ausübt (Art. 17 Abs. 2 SHG / BE). Achten Sie darauf, dass ein allfälliger Haftungsanspruch nicht verjährt. Allenfalls lohnt es sich auch die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons zu involvieren.

Alternativ besteht auch folgende Vorgehensmöglichkeit, welche wohl einfacher ist, falls der SD kooperiert:

- Die Abrechnung der bezogenen WSH mit der IV und EL darauf überprüfen, dass der Sozialdienst ungedeckte Franchiseanteile nicht mit der jährlichen EL verrechnet. Andernfalls sollten sie die Abrechnungsverfügung anfechten.

- Der Sozialdienst soll bestätigen, dass ungedeckte Franchiseanteile bzw. ungedeckte Teile der Franchise über der tiefsten Franchise von einer allfälligen künftigen Rückerstattungspflicht ausgenommen ist.

- Der Sozialdienst soll im Umfang der künftig ungedeckten Franchisekosten eine einmalige situationsbedingte Leistung (SKOS-RL C.2 Abs. 4) zusprechen, solange die Klientin die Frachise nicht herabsetzen kann. 

Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Frage beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder

Sehr geehrte Frau Schnyder

Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort!

Gerne möchte ich Sie noch fragen, ob ich Ihnen den Inhalt der Vollmacht noch mitteilen dürfte? Ich denke, aufgrund der Vollmacht hätte keine Franchiseerhöhung vorgenommen werden dürfen. Oder denken Sie, dass das schlussendlich nicht relevant ist?

Freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Sie können gerne den Text (anonymisiert) schicken, wenn Sie unsicher sind. 

Freundliche Grüsse, Ruth Schnyder