Guten Tag
Wir begleiten eine Klientin, die mittlerweile seit ca. 1.5 Jahren mit einer Nothilfe (GBL von CHF 300.-) lebt, weil sie die verfügten Auflagen nicht einhält.
Als Auflagen wird das Wahrnehmen der Termine bei uns und einer Partnerinstitution sowie die Abgabe eines Arztzeugnisses (bei Arbeitsunfähigkeit) festgehalten. Zu einem Gespräch ist sie zuletzt im Dezember 2019 erschienen. Seither konnte kein weiteres Gespräch durchgeführt werden. Auch telefonisch ist die Klientin für uns nicht erreichbar. Lediglich per E-Mail hält sie mit uns Kontakt.
Die Bedürftigkeit weist sie monatlich nach, in dem sie uns ein "Selbstdeklarations"-Formular zustellt sowie den Kontoauszug des Vormonats und den Nachweis der Mietzinszahlung.
Für uns steht natürlich trotzdem die Frage im Raum, wie sie über einen so langen Zeitraum mit so wenig Geld über die Runden kommt.
Kann die Sozialhilfe in dieser Situation eingestellt werden oder ist das Recht auf Nothilfe unantastbar?
Frage beantwortet am
Anja Loosli
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrter Herr Truffer
Vielen Dank für Ihre Frage. Ich beantworte diese gerne wie folgt:
Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Eingliederung und die Sozialhilfe (GES, SGS 850.1) hält u.a. als Zweck fest, dass jede Personen, die sich in einer schwierigen sozialen Lage befinden oder der die notwendigen Mittel für ihren Lebensunterhalt oder für die Befriedigung unerlässlicher persönlicher Bedürfnisse fehlen, Hilfe erhalten solle.
Die Unterstützungsleistungen können nach Art. 19a GES als Sanktion gekürzt werden, wenn die unterstützte Person nicht voll und ganz an der Wiedererlangung ihrer sozialen und finanziellen Selbständigkeit mitwirkt (Art. 19a Abs. 1 GES). Als Nichtmitwirkung gilt insbesondere die absichtliche Nichteinreichung von notwendigen Informationen zur genauen Berechnung des Anspruchs (lit. a), die Verheimlichung von finanziellen Mitteln (lit. b), die Ablehnung von zumutbaren Eingliederungsmassnahmen oder Nichtmitwirkung bei Eingliederung (lit. c) und die Verweigerung der Zusammenarbeit mit der mit den Ermittlungen beauftragten Dienststelle (lit. d). Weiter ist die Kürzung gerechtfertigt, wenn die unterstützte Person sich weigert, soziale Leistungen erhältlich zu machen (Abs. 2). Schliesslich kann die Sozialhilfe im Hinblick auf die Wiedereingliederung Auflagen machen, deren Nichtbefolgung ebenfalls zu Kürzungen führen kann (Abs. 5). Weigert sich die hilfesuchende Person nach einer schriftlichen Mahnung, in der sie auf die Folgen ihres Verhaltens aufmerksam gemacht wird, die nötigen Unterlagen zum Beweis der Hilfsbedürftigkeit zu übermitteln, kann die Gemeinde die materielle Hilfe verweigern (Art. 19b Abs. 1 GES). Massnahmen in Form der Aussetzung oder der Aufhebung der Hilfe werden als letztes Mittel gebraucht, wenn mit anderen Sanktionen das Verhalten des Sozialhilfeempfängers nicht geändert werden konnte (Abs. 2). Ausserdem können die Sozialhilfeleistungen ausnahmsweise ausgesetzt, verweigert oder aufgehoben werden, wenn der Sozialhilfeempfänger rechtsmissbräuchlich handelt Abs. 3).
Im Ausführungsreglement zum Gesetz über die Eingliederung und die Sozialhilfe (ARGES, SGS 850.100) finden sich vertieftere Bestimmungen zu den Mitwirkungspflichten. Dazu gehören die Auskunftspflicht bezüglich finanzieller und persönlicher Verhältnisse und die Einreichung von Arztzeugnissen (Art. 23 f. ARGES). Nicht ausdrücklich genannt ist die Pflicht, persönlich bei den Behörden zu erscheinen bzw. persönlich Termine wahrzunehmen. Diese Pflicht ist aber in der Lehre und Rechtsprechung allgemein anerkannt, da im persönlichen Gespräch der Sachverhalt inklusive örtliche Anwesenheit geprüft werden kann (Guido Wizent, Die Sozialhilferechtliche Bedürftigkeit, Zürich/St. Gallen 2014, S. 524, Fn. 1875). Allerdings kann das persönliche Erscheinen nur verlangt werden, wenn die unterstützte Person dazu gesundheitlich in der Lage ist und die Vorsprache zur Eruierung des Sachverhalts notwendig ist (Verhältnismässigkeitsprinzip). Dies gilt auch für die Erscheinungspflicht bei Partnerbehörden (dort besteht eine Pflicht zum Erscheinen aber allenfalls aus anderem Grund als der Ermittlung des Sachverhalts z.B, wenn eine Arbeitsleistung erbracht werden muss).
Werden die Pflichten gegenüber der Sozialhilfe verletzt, so rechtfertigt sich allenfalls eine Sanktion (Art. 42 ARGES). Diese besteht in der Kürzung des Grundbedarfs um 15% (Art. 42 Abs. 1 lit. b ARGES). Wenn das fehlerhafte Verhalten trotz Sanktion anhält, können die Sozialhilfeleistungen nach Art. 44 Abs. 2 ARGES für 3 Monate ausgesetzt werden, wobei während dieser Zeit Nothilfe, die den Ansätzen der Asylsozialhilfe entspricht, gewährt werden muss. Hält die Pflichtverletzung weiter an, so können die Sozialhilfeleistungen nach Abs. 3 für 3 Monat auf den Ansatz für abgewiesene Asylbewerber gekürzt werden. Nach 3 Monaten ist die Situation erneut zu prüfen.
Fazit: Soweit ich den Sachverhalt verstanden habe, haben Sie wegen anhaltender Pflichtverletzung (Nichteinhaltung von Termingen) den Grundbedarf auf Nothilfe für abgewiesene Asylbewerber (entsprechen Fr. 360.-- dem Ansatz von abgewiesenen Asylbewerber?) gekürzt. Gemäss ARGES besteht auch bei anhaltender Pflichtverletzung ausschliesslich die Möglichkeit, nach 3 Monaten mit anhaltender Pflichtverletzung den Grundbedarf um weitere 3 Monate zu kürzen. Eine definitive Einstellung ist nach ARGES nicht möglich. Dies entspricht auch Art. 12 der Bundesverfassung (BV), die Hilfe in Notlagen garantiert. Sie können somit die Unterstützungsleistungen wegen den genannten Pflichtverletzungen grundsätzlich nicht vollständig einstellen.
Es stellen sich in diesem Zusammenhang für mich aber 3 Fragen, die es im Zusammenhang mit ihrer Frage zu klären gilt. Es sind dies folgende:
1. Verhältnismässigkeit: Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit fordert, dass die Verwaltungsmassnahmen zur Verwirklichung des im öffentlichen Interesse liegenden Ziels geeignet und notwendig sind. Ausserdem muss der angestrebte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zu den Belastungen stehen, die den Privaten auferlegt werden.
Es gilt im konkreten Fall deshalb zu prüfen, ob es zur Ermittlung der Bedürftigkeit notwendig ist, dass die bedürftige Person zu einer Vorsprache erscheint und vor allem, ob es ihr möglich ist. Stellt sich heraus, dass die Person z.B. eine psychische Erkrankung hat, die es ihr unmöglich macht, das Haus zu verlassen oder unter Leute zu gehen und können die finanziellen Verhältnisse durch die Einreichung der Unterlagen auf dem Mailweg geklärt werden, ist es nicht verhältnismässig, von der unterstützten Person zu verlangen, Termine bei der Sozialhilfe wahrzunehmen und die Unterstützungsleistungen zu kürzen, wenn die Person nicht erscheint. Andernfalls ist das Verhältnismässigkeitsprinzip verletzt. Dasselbe gilt für die Termine bei der Partnerorganisation.
Es erscheint mir deshalb wichtig, dass die Situation diesbezüglich genau geklärt ist, bevor die Unterstützungsleistungen um weitere 3 Monate gekürzt werden. Stellt sich heraus, dass die Klientin nicht in der Lage ist, Termine wahrzunehmen, dürfen die Unterstützungsleistungen nicht weiter gekürzt werden.
Aber auch wenn sich herausstellt, dass die Klientin in der Lage wäre, die Termine wahrzunehmen, stellt sich für mich die Frage, ob es verhältnismässig ist, die Unterstützungsleistungen während 1,5 Jahren (und noch länger geplant) auf Nothilfe zu kürzen, weil Termine nicht wahrgenommen werden, insbesondere deshalb, weil die Unterlagen offenbar eingereicht werden und die Bedürftigkeit ermittelt werden kann. Diese Frage gilt es für mich deshalb ganz generell zu überdenken, wenn die Klientin sich nicht weitere Pflichtverletzungen zu Schulden kommen lässt.
2. Örtliche Zuständigkeit: Die Sozialhilfe ist Sache der Kantone (Art. 3 BV). Es gilt das Wohnsitzprinzip. Bedürftige werden nach Art. 115 BV von ihrem Wohnkanton unterstützt. Innerhalb des Wohnkantons ist grundsätzlich die Wohnsitzgemeinde zuständig.
Aufgrund des Nichterscheinens der Klientin stellt sich neben der Frage, ob die Klientin gesundheitlich in der Lage ist, zu Terminen zu erscheinen (siehe oben unter Verhältnismässigkeit), die Frage, ob die Klientin sich tatsächlich in der Gemeinde bzw. überhaupt im Kanton Wallis aufhält. Tut sie dies nicht, hat sie keinen Anspruch von der bisherigen Gemeinde bzw. vom Kanton Wallis finanziell unterstützt zu werden und die Unterstützungsleistungen können eingestellt werden.
Für mich stellt sich deshalb die Frage, ob nicht – parallel zur Frage, ob die Klientin in der Lage ist, Termine bei der Sozialhilfe und Partnerorganisationen einzuhalten - abgeklärt werden soll, ob die Klientin ihren Lebensmittelpunkt überhaupt im Kanton Wallis hat. Dafür kann nach Art. 27 ARGES die Polizei eingeschaltet werden. Stellt sich heraus, dass die Klientin ihren Lebensmittelpunkt gar nicht im Kanton Wallis oder bisherigen Gemeinde hat, können die Unterstützungsleistungen eingestellt werden.
3. Bedürftigkeit: Eine Einstellung der Unterstützungsleistungen wäre meiner Ansicht nach dann gerechtfertigt, wenn die Klientin sich zukünftig weigern würde, die erforderlichen Unterlagen einzureichen, um die Bedürftigkeit ermitteln zu können (Art. 19b Abs. 1 GES).
Ich hoffe, Ihnen mit meiner Antwort weiterhelfen zu können.
Freundliche Grüsse
Anja Loosli Brendebach