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Inwiefern muss einem Kindsvater Einsicht in die (Sozialhilfe-)Akten seiner Tochter gewährt werden, wenn die Tochter ihren Wohnsitz nicht bei ihrem Vater hat und demnach in der Sozialhilfe nur innerhalb des Haushalts der Mutter unterstützt wird?

Veröffentlicht:
11.07.2023
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Damen und Herren

Seit November 2022 unterstützen wir eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleineren Kindern mittels wirtschaftlicher Sozialhilfe.

Das eine ältere Kind, ein Mädchen, ist heute acht Jahre alt. Die Kindsmutter ist getrennt vom Kindsvater. Für die Tochter wurde im Mai 2023 seitens Regionalgericht Bern-Mittelland ein definitiver Entscheid bezüglich dem Unterhalt und der Betreuungsregelung gefällt. In diesem wird festgehalten, dass das Mädchen unter die gemeinsame elterliche Sorge gestellt und in alternierender Obhut zu je 50% von der Kindsmutter und dem Kindsvater betreut wird. Der gesetzliche Wohnsitz wird jedoch bei der Kindsmutter belassen.

Aufgrund Hochstreitigkeiten zwischen den Elternteilen wurde für das Mädchen im Jahr 2020 eine Beistandschaft nach Art. 308 Abs. 2 ZGB errichtet. Diese soll auch nach dem Entscheid des Regionalgerichts weitergeführt werden.

Der Kindsvater des Mädchens versucht aufgrund der hochstrittigen Situation zwischen den Kindseltern seit Beginn der finanziellen Unterstützung der Kindsmutter und der Tochter, bei unserem Sozialdienst Einblick in die Daten seiner Tochter zu gewinnen und verlang Einsicht in sämtliche Daten, welche seine Tochter betreffen. Betroffen sind davon hauptsächlich Dokumente der Krankenkasse und der Zusatzversicherung (Arztrechnungen, Leistungsabrechnungen).

Weiter möchte der Kindsvater wissen, welche situationsbedingte Leistungen wir für das Kind bezahlt haben. Er verspricht sich daraus zu erfahren, ob seine Tochter z.B. ein Hobby aufnimmt, über welches er von der Kindsmutter nicht informiert wird.

Am 08. Juli 2023 stellte der Kindsvater das Gesuch um Datenauskunft: "Stellen Sie mir alle meine Tochter betreffenden Daten zu, die in Ihren Datensammlungen vorhanden sind."

Er möchte grundsätzlich Einsicht in sämtliche Daten (Unterlagen/Aktennotizen, Budgets) haben, welche sein Kind betreffen. Dabei stützt er sich auf Art. 8 des Bundesgesetztes über den Datenschutz vom 19. Juni 1992 (DSG).

Seitens Sozialdienst sind wir uns nicht sicher, ob wir dem Kindsvater die Einsicht gewähren müssen oder nicht. Da die Tochter ihren gesetzlichen Wohnsitz bei der Mutter hat und mit ihr in einer Unterstützungseinheit ist, wird für sie beispielhaft auch die Krankenkasse mittels eines Drittzahlers beglichen. Somit hat der Kindsvater von sich aus keine Einsicht mehr in sämtliche Leistungsabrechnungen o.ä., welche die KVG betreffen. Dies ist insbesondere deshalb relevant für ihn, da er gemäss dem Entscheid des Regionalgerichts im Mai 2023 zusätzlich zum Unterhalt für die Prämie der Zusatzversicherung aufkommen muss. Der Kindsvater zahlt die Zusatzversicherung jeweils direkt an die Krankenkasse. Die Grundversicherung sowie die Zusatzversicherung der Tochter wurden beide bei derselben Krankenkasse abgeschlossen. Laut deren Aussage ist eine getrennte Police für die Tochter nicht möglich und damit werden auch direkte Kommunikationswege zwischen der Krankenkasse und dem Kindsvater erschwert.

Zusammengefasst stellt sich uns die Frage, ob und inwiefern dem Kindsvater Einsicht in die (Sozialhilfe-)Akten seiner Tochter gewährt werden muss, auch wenn die Tochter ihren Wohnsitz nicht bei ihrem Vater hat und demnach in der Sozialhilfe nur innerhalb des Haushalts der Mutter unterstützt wird. Daraus ergeben sich folgende Fragen:

  • Kann der Kindsvater Einsicht in die Zahlungen nach SIL verlangen um zu erfahren, wofür die SIL ausgegeben wurde im Budget der Kindsmutter jedoch zu Gunsten der Tochter?
  • Kann der Kindsvater Einsicht in Krankenkassenakten erhalten, welche wir auf dem Sozialdienst bearbeiten oder muss er sich diese Akten direkt von der Krankenkasse besorgen?
  • Wenn wir dem Kindsvater Akteneinsicht gewähren müssen, muss die Kindsmutter informiert und einverstanden sein oder müssen wir die Akteneinsicht auch gegen den Willen der Kindsmutter gewähren.
  • Können wir der zuständigen Beiständin des Mädchens (die Beistandschaft wird in einem anderen Sozialdienst geführt) die vom Kindsvater gewünschten Informationen geben – ggfs. Gegen den Willen der Kindsmutter.
  • Falls dem Antrag nach Akteneinsicht stattgegeben werden muss, wie können wir die Dokumente so aufbereiten, dass er lediglich die Informationen bezüglich seiner Tochter sieht und nicht die Daten im unterstützten Haushalt?

Können Sie uns hierbei weiterhelfen?

Bereits im Voraus bedanken wir uns herzlich für Ihre Unterstützung und für Ihre baldigen Rückmeldungen.

Mit freundlichen Grüssen

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi

Eine Rückfrage, wird die alternierende Obhut gelebt, d.h. das Mädchen verweilt je 50% bei jedem Elternteil?

Freundliche Grüsse

Karin Anderer

Sehr geehrte Frau Anderer

Der Kindsvater betreut die Tochter jeweils abwechselnd während folgenden Tagen:

1. Woche: Mittwoch bis Freitag
2. Woche: Mittwoch bis Sonntag

Dieser Rythmus wird dann, nach unserem Wissen, vierzehntäglich wiederholt. 

Ich hoffe, diese Antwort hilft Ihnen weiter. 

Mit freundlichen Grüssen

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi

Die Eltern üben die gemeinsame elterliche Sorge gleichberechtigt und im Einvernehmen aus, auch bei alternierender Obhut (Berner Kommentar, Affolter-Fringeli Kurt/Vogel Urs, Die elterliche Sorge / der Kindesschutz, das Kindesvermögen, Minderjährige unter Vormundschaft, Bern 2016, Art. 301 ZGB N 25). Es ist ihre Sache, sich darüber zu verständigen, auf welche Art und Weise sie die elterliche Sorge ausüben wollen (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 296 ZGB N 17). Für das Funktionieren wird eine gewisse partnerschaftliche Haltung vorausgesetzt: die Eltern müssen einen Konsens über die Grundsätze der Erziehung des Kindes finden und über ein gewisses Mass an Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft und Konfliktfähigkeit verfügen (BK Affolter-Fringeli/Vogel, 296 17 ff.).

Die elterliche Sorge dient, nach Art. 296 ZGB, dem Wohl des Kindes. Die Eltern haben sich somit bei der Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge am Kindeswohl zu orientieren. Ein gewisser Informationsaustausch und eine gewisse Verständigung zwischen den gemeinsam sorgeberechtigten Eltern mit einer alternierenden Obhut sind deshalb unabdingbar.

Art. 304 Abs. 2 ZGB stellt betreffend die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge die Regel auf, dass gutgläubige Drittpersonen voraussetzen dürfen, dass jeder Elternteil im Einvernehmen mit dem andern handelt. Diese Regel dürfte hier wegen des offensichtlichen Elternkonflikts nicht greifen.

Vorliegend geht es um Auskünfte über die Finanzierung des Lebensunterhalts und über Freizeitbeschäftigungen des Mädchens während der Betreuungszeiten bei der Mutter.

Der Vater hat als gesetzlicher Vertreter seiner Tochter ein Akteneinsichtsrecht in die betreffenden Sozialhilfeakten. Überall dort, wo es um die sozialhilferechtlichen Interessen seiner Tochter geht, ist ihm deshalb Akteneinsicht zu gewähren. Das bedeutet, dass der Sozialhilfedienst die Akten sorgfältig aufbereiten und alle Daten über die Mutter und anderweitiger Drittpersonen abdecken muss. Die Mutter kann dem sorgeberechtigten Vater die Akteneinsicht nicht verbieten.

Geht es um höchstpersönliche Rechte der Tochter (Art. 19c ZGB), hat sie, wenn sie diesbezüglich urteilsfähig ist, selbst darüber zu entscheiden, ob die Daten dem Vater offengelegt werden dürfen.

Nach Art. 301 Abs. 1bis ZGB kann der Elternteil, der das Kind betreut, allein entscheiden, wenn die Angelegenheit alltäglich oder dringlich ist. Das Mädchen lebt zu 50% bei seiner Mutter in alternierender Obhut. Die Mutter hat somit für diese Zeitspanne eine Alleinentscheidungskompetenz in alltäglichen Angelegenheiten (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 301 N 28). Was das nun genau umfasst, ist im Gesetz nicht definiert, die Praxis muss jene Bereiche definieren, die alltäglichen Charakter haben (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 301 N 30). So haben normale Freizeitaktivitäten, also keine risikoreichen Aktivitäten, alltäglichen Charakter. Keinen solchen Charakter hat die Wahl medizinischer Behandlungsmethoden (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 301 N 30). Die Abgrenzung kann auch anhand der Auswirkungen und der Unabänderlichkeit der getroffenen Entscheidung erfolgen (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 301 N 33). Und schliesslich liegt eine Alleinentscheidungskompetenz vor, wenn eine Entscheidung die Betreuungssituation und den Verantwortungsbereich des anderen Elternteils nicht massgeblich tangieren (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 301 N 34).

Normale Freizeitaktivitäten, die das Mädchen während der Betreuungszeiten bei der Mutter ausübt, haben keine direkte Auswirkung auf die Betreuungssituation und den Verantwortungsbereich des Vaters, der Mutter kommt hier eine Alleinentscheidungskompetenz zu.

Die Mutter informiert den Vater nicht in Belangen, wo ihr die Alleinentscheidungskompetenz nach Art. 301 Abs. 1bis ZGB zukommt. Ob diese Uneinigkeit in der Ausübung der elterlichen Sorge hinzunehmen ist oder ob die mangelhafte Kommunikation zwischen den Eltern ein Kindeswohlgefährdung darstellt, wäre abzuklären. Das ist aber nicht Sache des Sozialdienstes, der Vater muss sich hier an die KESB wenden.

Im medizinischen Bereich gilt, dass die Mutter, mit Ausnahme von Bagatellbehandlungen, nur gemeinsam mit dem Vater die Vertretung ausüben kann, ihr kommt keine Alleinentscheidungskompetenz zu. Möglicherweise verletzt die Mutter ihre Entscheidungsbefugnis, was aber keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen nach sich zieht (BK Affolter-Fringeli/Vogel, Art. 301 N 48). Bestehen hier Konflikte, ist, wie oben bereits geschildert, zu prüfen, ob die Uneinigkeit in der Ausübung der elterlichen Sorge hinzunehmen ist oder ob die mangelhafte Kommunikation zwischen den Eltern ein Kindeswohlgefährdung darstellt. Der Vater muss sich hier an die KESB wenden.

Der sorgeberechtigte Vater hat ein Akteneinsichtsrecht in die Daten seiner Tochter. Die Akteneinsicht muss nicht begründet werden, sie ist grundsätzlich zu gewähren. Die Ausübung des Akteneinsichtsrechts muss sich am Kindeswohl orientieren (Art. 296 ZGB), mit ihr lässt sich die Uneinigkeit der Eltern hinsichtlich der Art und Weise, wie sie die elterliche Sorge gemeinsam ausüben, nicht lösen. Deshalb ist es m.E. zulässig, den Vater sein Interesse beschreiben zu lassen, damit das objektive Interesse an der Wahrnehmung der sozialhilferechtlichen Interessen der Tochter festgestellt werden kann. Nicht zulässig ist es, dass der Vater über das Akteneinsichtsrecht das Kindeswohl gefährdet, indem er z.B. den Elternkonflikt schürt oder das Kind in Loyalitätskonflikte bringt.

Das Bundesgesetz über den Datenschutz vom 19.6.1992, SR 235.1 ist im Bereich der Bundesverwaltung und unter Privaten anwendbar (Art. 2 DSG) nicht aber in der kantonalen Sozialhilfe. Hier gelten das kantonale Informationsgesetz (Art. 2 des Gesetzes über die Information der Bevölkerung des Kantons Bern vom 2.11.1993 (Informationsgesetz; IG, BSG 107.1.) und das kantonale Datenschutzgesetz des Kantons Bern vom 19.2.1986 (KDSG), BSG 152.04.

Über das Vorgehen zur Akteneinsicht gibt das Handbuch der Berner Konferenz, integriert in den SKOS-RL Auskunft (Handbuch Bern auswählen).

Somit lassen sich ihre Fragen folgendermassen beantworten:

  • Kann der Kindsvater Einsicht in die Zahlungen nach SIL verlangen um zu erfahren, wofür die SIL ausgegeben wurde im Budget der Kindsmutter jedoch zu Gunsten der Tochter?
    Ja, der Vater hat ein Akteneinsichtsrecht, wo es um die Wahrnehmung der sozialhilferechtlichen Interessen der Tochter geht.
  • Kann der Kindsvater Einsicht in Krankenkassenakten erhalten, welche wir auf dem Sozialdienst bearbeiten oder muss er sich diese Akten direkt von der Krankenkasse besorgen?
    Ja, der Vater hat ein Akteneinsichtsrecht, wo es um die Wahrnehmung der sozialhilferechtlichen Interessen der Tochter geht. Dazu gehören auch die Krankenkassenunterlagen.
  • Wenn wir dem Kindsvater Akteneinsicht gewähren müssen, muss die Kindsmutter informiert und einverstanden sein oder müssen wir die Akteneinsicht auch gegen den Willen der Kindsmutter gewähren?
    Eine Information an die Mutter ist unerlässlich, sie kann die Akteneinsicht des mit ihr gemeinsam sorgeberechtigten Vaters aber nicht verweigern. Deshalb benötigt der Dienst keine Zustimmung von ihr.
  • Können wir der zuständigen Beiständin des Mädchens (die Beistandschaft wird in einem anderen Sozialdienst geführt) die vom Kindsvater gewünschten Informationen geben – ggfs. gegen den Willen der Kindsmutter?
    Das kommt auf den Auftrag und Aufgabenbereich der Beistandschaft an. Nur wenn der Beistandsperson Aufgaben im Bereich der Sozialhilfe und des Krankenkassenmanagements aufgetragen wurden, wäre das möglich.
  • Falls dem Antrag nach Akteneinsicht stattgegeben werden muss, wie können wir die Dokumente so aufbereiten, dass er lediglich die Informationen bezüglich seiner Tochter sieht und nicht die Daten im unterstützten Haushalt?
    Sie müssen die Akten sorgfältig sichten und Informationen, die die Tochter nicht betreffen, insbesondere Daten über die Mutter und weiteren Drittpersonen, abdecken.

Ich empfehle dem Dienst, in einem internen Datenschutzkonzept das Vorgehen bei Akteneinsicht zu regeln und die besondere Konstellation der gemeinsamen elterlichen Sorge abzubilden. Sie können sich von der gemeindeeigenen Aufsichtsstelle für Datenschutz beraten und unterstützen lassen, ggf. in Zusammenarbeit mit der kantonalen Datenschutzaufsichtsstelle. Allenfalls kann auch die Berner Konferenz auf die Thematik aufmerksam gemacht werden.

Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 22.7.2023

Karin Anderer