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Haftung - Entzug Handlungsfähigkeit für Verträge und Bereich Finanzverwaltung

Veröffentlicht:
16.10.2017
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Anderer
Ich habe neu die Massnahme für einen Klienten übernommen (Übertragung anderer Kanton), dessen Handlungsfähigkeit für Verträge und im Bereich Finanzverwaltung entzogen ist. Die ersten Zahlungsbefehle treffen ein: für Nespresso-Kapseln, die er bestellt hat und für 1. Klasse-Fahrten bei der SBB.
Nespresso: Der KL gibt an, er habe gewusst, dass er keine Verträge eingehen durfte, er habe aber eine Nespresso-Maschine und wollte Kapseln, um Kaffee zu trinken. Er habe sich nicht vorgängig abgesprochen.
SBB: Der KL besitzt ein GA für die 2. Klasse. Er wollte sein Handy aufladen und ist darum 1. Klasse gefahren. Im lokalen Netz habe nur die 1. Klasse Steckdosen. Er habe gewusst, dass er einen Aufpreis für die 1. Klasse hätte bezahlen müssen.
Rücksprache mit dem Therapeut: KL ist urteilsfähig. Er „organisiere“ sich, was für seine Bedürfnisse brauche. Sein Verhalten sei Adoleszenz.
Ich beziehe mich auf Art. 19b ZGB und bin unsicher, wie ich bezüglich den Zahlungsbefehlen vorgehen muss/soll.
Gemäss Drittperson müsste ich Rechtsvorschlag erheben mit der Begründung, dass der KL wegen seiner Schwächezustand heraus, keine Verträge eingehen kann und er darum nicht haftbar sei. Damit können beide Gläubiger ihre Forderung nicht geltend machen.
Ich bin der Ansicht, dass ist so nicht korrekt. Der KL war meiner Meinung nach (und die des Therapeuten) urteilsfähig, er hat verstanden, dass wenn er 1. Klasse fährt, er dafür zahlen müsste und die Leistung (1. Klassefahrt) wurde vollumfänglich vollzogen. Dasselbe für Nepresso. Damit ist der KL nach meiner Ansicht für den ganzen oder einen Teil des Betrags haftbar.
Meine Frage an Sie:

  • Sind SBB Fahrten „geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens“ (Art. 19 Abs. 2 ZGB)?
  • Muss ich für den Zahlungsbefehl der SBB Rechtsvorschlag erheben und ist der KL vollumfänglich haftbar?
  • Muss ich für den Zahlungsbefehl von Nespresso Rechtsvorschlag erheben? Inwiefern ist der KL haftbar?
    Vielen Dank für Ihre Antwort.
    Freundliche Grüsse
    Fatma Kröner

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Frau Körner
Entschuldigen Sie bitte die krankheitsbedingte verspätete Beantwortung Ihrer Anfrage.
Für Handlungen, die „geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens“ betreffen, benötigt der urteilsfähige Handlungsunfähige keine Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. Solche Geschäfte sind gültig zustande gekommen (BK-Bucher/Aebi-Müller, Art. 19-19c ZGB, N168 ). Der Begriff der Geringfügigkeit muss nach einem objektivierbaren Massstab ausgelegt werden und orientiert sich an der finanziellen Situation der urteilsfähigen handlungsunfähigen Person. Schutzzweck von Art. 19 Abs. 2 ZGB ist, dass die betroffene Person nicht über ihre Verhältnisse lebt und sich auch nicht durch eine Häufung von Kleinkäufen verschuldet. Kreditkäufe, also wenn der Preis erst nach der Lieferung bezahlt werden muss, fallen in der Regel nicht darunter. Der Kauf der Nespressokapseln (gemäss Sachverhalt Kreditkauf) ist deshalb nicht als geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens zu qualifizieren. Anders könnte das aussehen, wenn der Herr eine oder wenige „Stangen“ Nespressokapseln im Geschäft kauft und bar bezahlen würde (BK-Bucher/Aebi-Müller, Art. 19-19c ZGB, N 220).
Ein Billettkauf im Personennahverkehr oder ein entsprechender Klassenwechsel dürfte unter die Geringfügigkeit fallen, allerdings liegt hier kein solcher Fall vor; der Herr hat die Fahrt mit einem teilgültigen Fahrausweis bestritten und ist in der 1. Klasse „schwarzgefahren“. „Schwarzfahren“ bzw. dessen Folgen fallen nicht unter die „geringfügigen Angelegenheiten des täglichen Lebens“ nach Art. 19 Abs. 2 ZGB.
Nach Art. 19 Abs. 3 ZGB werden urteilsfähige handlungsunfähige Personen aus unerlaubten Handlungen schadenersatzpflichtig. Für das „Schwarzfahren“ hat der Herr also einzustehen, wenn er diesbezüglich als urteilsfähig einzustufen ist.
Art. 19b ZGB regelt den Fall der fehlenden Genehmigung des gesetzlichen Vertreters. Wenn die Genehmigung des gesetzlichen Vertreters nicht erfolgt, so kann jeder Teil die vollzogenen Leistungen zurückfordern. Die handlungsunfähige Person haftet jedoch nur insoweit, als die Leistung in ihrem Nutzen verwendet worden ist oder als sie zur Zeit der Rückforderung noch bereichert ist oder sich böswillig der Bereicherung entäussert hat. Nach Art. 19b Abs. 2 ZGB ist die (urteilsfähige) handlungsunfähige Person schadenersatzpflichtig, wenn sie den andern Teil zur irrtümlichen Annahme ihrer Handlungsfähigkeit verleitet hat.
Was die Nespressokapseln anbelangt, wurde vom Herrn zu seinem Nutzen verbraucht und er hat den damit eingesparten eigenen Aufwand zu entschädigen (BSK ZGB I- Fankhauser, Art. 19b 5.)
In beiden Fällen muss der Herr die bezogenen Leistungen begleichen.
Sie können es versuchen, Rechtsvorschlag zu erheben, die Handlungsunfähigkeit entgegenhalten und darauf spekulieren, dass die Kontrahenten die Sache auf sich beruhen lassen. Bei Nespresso mögen Sie damit vielleicht durchkommen, bei der SBB hege ich Zweifel. Wenn die Beseitigung des Rechtsvorschlag begehrt wird, hat der Herr aus oben genannten Gründen schlechte Karten und es fallen Kosten an.
Auf der methodischen Seite dürfte zukünftig die „Knochenarbeit“ liegen. Kann der Herr befähigt werden, sein Leben in diesen Angelegenheiten in den Griff zu bekommen? Die Beistandschaft mit Beschränkung der Handlungsfähigkeit ist jedenfalls kein Freipass für Pflichtvergessenheit und schädigendes Verhalten. Falls der Herr für eine Betreuung nicht zugänglich ist, empfiehlt es sich, die Massnahme und die Ziele der Beistandschaft zu evaluieren. Was der Grund bzw. worin der Schutzbedarf liegt, dass vorliegend die Handlungsfähigkeit eingeschränkt wurde, ist mir allerdings nicht bekannt.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Karin Anderer
Luzern 24.10.2017