Sehr geehrte Damen und Herren
Klient, Jahrgang 1989 leidet an Paranoiden Schizophrenie (F20.0). Krankheitsbedingt fehlt ihm die Urteilsfähigkeit bezüglich der unter Wahneinfluss begangenen Sachbeschädigung in seiner Wohnung.
Der Schaden sah wie folgt aus:
- 1 Fenster komplett rausgerissen;
- 2 weitere Fenster konnten nicht mehr richtig zu gemacht werden. Ein Spaltbreit war immer offen;
- Die Wohnungstür hat er eingetreten, dass diese nicht mehr geschlosen werden konnte.
Die Renovation wurde durchgeführt. Der Schaden in Höhe von CHF 6'946.65 wurde bei der Versicherung eingereicht.
Die Versicherung schreibt:
Sie übernimmt die Kosten nicht, da der Klient nicht urteilsfähig war als er den Schaden verursacht hat. Daher besteht auch keine gesetzliche Haftung, welche ihm angelastet werden kann. Das bedeutet er muss den Schaden nicht ersetzten und aus diesen Gründen kann auch die Versicherung keine Leistungen erbringen.
Betreffend Billigkeitshaftung nach Art. 54 Abs. 1 OR äussert sich die Versicherung wie folgt:
Bei der erwähnten Billigkeitshaftung muss ein Richter den Klienten zur Übernahme der Kosten verpflichten.
In einem Merkblatt der ISOS habe ich folgendes gefunden:
Die Haftung einer Klientin bzw. eines Klienten für einen verursachten Schaden setzt u.a. voraus, dass dieser Person ein Verschulden vorgeworfen werden kann (Art. 41 Abs. 1 OR). Dies setzt Urteilsfähigkeit voraus. Wer aufgrund seines gesundheitlichen Zustands nicht in der Lage ist, die Konsequenzen des eigenen Handelns abzuschätzen, löst mit seinen Handlungen keine rechtliche Wirkung aus (Art. 16 und 18 ZGB). Fehlt in diesem Fall die Urteilsfähigkeit, besteht in aller Regel auch keine Haftung. Nur ausnahmsweise kann eine urteilsunfähige Person nach Art. 54 Abs. 1 OR zu teilweisem oder vollständigem Schadenersatz verpflichtet werden, wenn sich eine Haftung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles aus «Billigkeit» (Einzelfallgerechtigkeit) aufdrängt (wenn der urteilsunfähige Schadensverursacher z. B. in besonders guten finanziellen Verhältnissen lebt).
Verursacht eine urteilsunfähige Person einen Schaden, kann sie somit in der Regel nicht haftbar gemacht werden. Haftet ein Versicherungsnehmer nicht für den Schaden, muss dafür auch deren Haftpflichtversicherung nicht aufkommen. In der Praxis lehnen deshalb die Versicherer trotz eigentlicher Deckung des Ereignisses die Übernahme des Schadens meistens ab.
Von einer Arbeitskollegin bekam ich folgende Rückmeldung:
Obwohl in aller Regel im Falle einer Urteilsunfähigkeit keine zivilrechtliche Haftung besteht, kann der Richter im Rahmen eines Haftungsprozesses gemäss Art. 54 OR aus Billigkeit auch eine dauerhaft nicht urteilsfähige Person, die Schaden verursacht hat, zu teilweisem oder vollständigem Ersatze verurteilen.
Häufig kommt die Billigkeitshaftung nicht zur Anwendung, weil diese voraussetzt, dass keine weiteren Ersatzpflichtigen belangt werden können (Honsell/Isenring/Kessler, Haftpflichtrecht, § 16 N 6). Häufig resultieren Schäden durch Urteilsunfähige aus einer Nachlässigkeit der für die Aufsicht zuständigen Person (Eltern, Heimpersonal, Lehrer etc.). Dies ist indes vorliegend nicht der Fall.
Die Billigkeitsgründe, die nach Art. 54 Abs. 1 OR die Ersatzpflicht des Urteilsunfähigen rechtfertigen können, bestehen insbesondere in der Rücksichtnahme auf die beidseitigen finanziellen Verhältnisse der Parteien im Zeitpunkt des Urteils (BGE 26 II 327, BGE 71 II 231 E. 5; BUCHER, N. 82 zu Art. 17/18 ZGB).
Das Bestehen einer Haftpflichtversicherung wird dabei mitberücksichtigt. Ebenso wird berücksichtigt, ob auf Seiten des Geschädigten eine Versicherung den Schaden deckt. Eine Gebäudeversicherung deckt in der Regel Schäden, die durch Feuer, Wasser oder Sturm entstanden sind. Entsprechend dürfte dem Geschädigten keine Versicherung den Schaden decken.
Für eine Billigkeitshaftung spricht vorliegend im Übrigen auch, dass es dem Vermieter an sich freigestanden hätte, in Anbetracht des Risikos für weitere Schäden, dem Mieter zu kündigen.
Entsprechend sehe ich durchaus realistische Chancen, dass das Gericht eine Billigkeitshaftung bejahen würde.
Fragestellung
Wie soll ich als Beiständin im Sinne meines Klienten am besten handeln und vorgehen?
Vielen Dank für Ihre Rückmeldung.
Freundliche Grüsse und einen schönen Tag
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Grüezi Frau N
Zwei Rückfragen habe ich:
Ist ein Haftpflichtprozess bereits im Gange?
Ist es eine Privatwohnung mit privater Vermieterschaft oder eine Wohnung/Unterkunft einer sozialen Organisation?
Freundliche Grüsse
Karin Anderer
Guten Tag Frau Anderer
Es ist noch kein Prozess im Gange. Habe bis jetzt versucht mit der Versicherung zu klären. Diese bleiben auf ihrem Standpunkt, dass sie nichts übernehmen.
Es handelt sich um eine Privatwohnung, welche von einer Immobilienfirma verwaltet wird.
Freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Karin Anderer
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Sehr geehrte Frau Nesca
Art. 16 ZGB stellt die Vermutung der Urteilsfähigkeit auf. Nur aus dem Vorhandensein einer psychischen Erkrankung (objektive Gründe der Urteilsfähigkeit) kann noch nicht auf Urteilsunfähigkeit geschlossen werden. Dem Herrn muss die Einsicht in die Schädigungsmöglichkeit und in das Unrecht der Schadenszufügung und die Willenskraft, das schädigende Verhalten zu unterlassen, im Zeitpunkt der schädigenden Handlungen gefehlt haben (subjektive Gründe der Urteilsfähigkeit). Die Vermutung führt dazu, dass die Versicherung die Urteilsunfähigkeit zu beweisen hat (vgl. BK-Bucher/Aebi-Müller, Art. 16 ZGB, N 153 ff.). Eine Umkehr der Urteilsfähigkeitsvermutung kommt nur dann zum Zuge, wenn der Herr über einen längeren Zeitraum hinweg als urteilsunfähig bezeichnet werden muss; eine zeitweise Urteilsunfähigkeit reicht nicht aus. In so einem Falle wäre von Urteilsunfähigkeit auszugehen und der Herr müsste seine Urteilsfähigkeit beweisen (vgl. BK-Bucher/Aebi-Müller, Art. 16 ZGB, N 158 ff.). Deshalb rate ich Ihnen, die Urteilsfähigkeit bzw. Urteilsunfähigkeit in Bezug auf die schädigenden Handlungen durch den Hausarzt/Psychiater beurteilen zu lassen, damit Sie wissen, wie Sie mit der Versicherung fortfahren sollen.
Kann von der Urteilsunfähigkeit in Bezug auf die schädigenden Handlungen ausgegangen werden, gilt Folgendes: Wer nicht urteilsfähig ist, vermag unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen durch seine Handlungen keine rechtliche Wirkung herbeizuführen (Art. 18 ZGB).
War der Klient in Bezug auf die schädigenden Handlungen urteilsunfähig, so haftet er nicht. Dann muss die Versicherung den Schaden nicht übernehmen. Es kommt in der Praxis aber vor, dass die Versicherungen den Schaden aus Kulanz trotzdem decken, insbesondere, wenn die Schadensposition, wie hier, nicht sehr hoch ausfällt.
Sie haben folgende Möglichkeiten:
- Mit der Versicherung weiter über die Kulanz verhandeln.
- Sie einigen sich mit dem Vermieter auf eine Schadensbegleichung und finanzieren den Schaden aus dem Vermögen des Herrn und mit Geldern aus Fonds und Stiftungen. Vielleicht ist die Versicherung auch bereit, einen Teil aus Kulanz zu übernehmen. Diese Lösung würde sich anbieten, wenn das Mietverhältnis aufrecht erhalten werden soll und der Vermieter dazu Hand bietet.
- Sie bezahlen den Schaden nicht. Der Vermieter bleibt auf seinem Schaden sitzen, was zur Wohnungskündigung führen könnte (ggf. kurzfristig oder sogar fristlos nach Art. 257f OR, vgl. CHK Hulliger/Heinrich OR 257f). Diese Lösung würde sich anbieten, wenn das Mietverhältnis ohnehin nicht aufrecht erhalten werden könnte, z.B. weil der Klient nicht wohnfähig und nicht adhärent hinsichtlich der notwendigen psychiatrischen Behandlung und Betreuung ist und mit weiterem deliktischen Handeln in der Wohnung zu rechnen wäre.
- Die Haftung aus Billigkeit müsste vom Vermieter eingeklagt werden, dann, wenn er auf dem Schaden sitzen bleibt. Bei der Billigkeitshaftung kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an, wobei der finanziellen Situation der Parteien im Zeitpunkt des Urteils vorrangige Bedeutung zukommt. So spricht der Umstand, dass die geschädigte Partei wohlhabend ist und die schädigende Partei in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebt, gegen eine Billigkeitshaftung. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gefahr besteht, dass der Schädiger durch die Ersatzpflicht in eine Notlage geraten könnte oder auf lange Zeit hinaus auf das Existenzminimum gesetzt wäre. Für eine Billigkeitshaftung spricht dagegen der Umstand, dass der Schaden für den Geschädigten eine grosse Belastung darstellt (vgl. dazu BGE 122 III 262 E 2a/aa). Lebt der Herr in bescheidenen finanziellen Verhältnissen und ist der Vermieter in günstigen, so spricht das tendenziell gegen eine Billigkeitshaftung.
Ich hoffe, die Angaben sind Ihnen nützlich und ich grüsse Sie freundlich.
Luzern, 17.5.2021
Karin Anderer