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Gemeinsame Kinder, aber getrennter Wohnsitz

Veröffentlicht:
27.11.2020
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

Wir unterstützen eine Frau (Zivilstand ledig), welches ihr 4. Kind von ihrem Lebenspartner erwartet. Der Lebenspartner arbeitet und lebt in einer eigenen Wohnung (Nachbarsgemeinde). Sein Einkommen ist sehr gering, weshalb er für die bereits vorhandenen 3 Kinder nur je CHF 40.- Alimente bezahlt. 

Das Paar lebt offensichtlich eine aktive Beziehung, was die Frau auch nicht bestreitet. Aufgrund der zwei Wohnsitze stehen der Familie jedoch mehr finanzielle MIttel zur Verfügung, als wenn sie alle in einem gemeinsamem Ort wohnen würden. Ebenfalls wären auch die Sozialhilfekosten deutlich geringer, da dann für die Frau nicht eine eigene Wohnung finanziert werden müsste. 

Diese Situation erachten wir als sehr stossend und ist nicht ein Einzelfall.

Wie sieht es rechtlich aus? Können diese Personen verpflichtet werden, einen gemeinsamen Wohnsitz zu nehmen, wenn offensichtlich eine intakte Beziehung vorliegt (mit gemeinsamen Kindern!) und als Grund für den getrennten Wohnsitz vor allem die finanzielle Besserstellung vermutet werden muss?

Ich danke für Ihre Rückmeldung.

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag Frau Binggeli

 

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Für mich stellt sich zunächst die Frage, ob aufgrund der aktuellen Sachlage im konkreten Fall bereits von einer Wohn- und Lebensgemeinschaft bzw. einem stabilen Konkubinat ausgegangen werden könnte. Wäre diese Frage zu bejahen, würde sich die von Ihnen angedachte Verpflichtung zur gemeinsamen Wohnsitznahme erübrigen.

Nach den SKOS-Richtlinien, welche für den Kanton Bern in dieser Frage im Wesentlichen massgebend sind (Art. 8 Abs. 1 SHV), definiert sich eine Wohn- und Lebensgemeinschaft nach Kap. B.2.3 (C.1.3 Erläuterung b) SKOS-Richtlinien ab 2021) wie folgt:

Unter den Begriff familienähnliche Wohn- und Lebensgemeinschaften fallen Paare oder Gruppen, welche die Haushaltfunktionen (Wohnen, Essen, Waschen, Reinigen usw.) gemeinsam ausüben und/oder finanzieren, also zusammenleben, ohne eine Unterstützungseinheit zu bilden (z.B. Konkubinatspaare, Eltern mit volljährigen Kindern).

Die Wohn- und Lebensgemeinschaft hat zunächst den Effekt, dass die Haushaltskosten auf alle Köpfe in der Wohn- und Lebensgemeinschaft anteilsmässig verteilt werden. Darüber hinaus besteht zwar keine rechtliche Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung, jedoch kann ein Beitrag an die Haushaltsführung angerechnet werden oder bei stabilen Konkubinaten ein Konkubinatsbeitrag (Kap. F.5.1 SKOS-Richtlinien). Ein Konkubinat gilt nach den SKOS-Richtlinien als stabil, wenn es mindestens zwei Jahre (nach der Rechtsprechung des Berner Verwaltungsgerichts im Kanton Bern fünf Jahre) andauert oder die Partner mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben. In den SKOS-Richtlinien ab 2021 wird das stabile Konkubinat wie folgt definiert (D.4.4 Abs. 2 SKOS-Richtlinien):  Ein Konkubinat gilt als stabil, wenn die Partner seit mindestens zwei Jahren in einer Beziehung zusammenleben oder wenn sie weniger als zwei Jahre zusammenleben aber ein gemeinsames Kind haben. Diese Vermutung kann umgestossen werden.

Letztlich hängt es also davon ab, ob das Paar zusammenlebt. Da es gemeinsame Kinder hat, spielt die Dauer des Zusammenlebens keine Rolle.

Im geschilderten Fall ist es so, dass die Mutter mit den 3 gemeinsamen Kindern in einer Wohnung lebt und der Vater separat in einer anderen Wohnung, offenbar in einer anderen Gemeinde, da Sie von zwei Wohnsitzen schreiben. Es handelt sich unbestritten um eine intakte Paarbeziehung zwischen den Eltern der 3 Kinder. Das Luzerner Verwaltungsgericht hatte im Urteil A 10 225 vom 19.9.2011 einen ähnlichen Fall zu beurteilen. Es ging dabei um die Mutterschaftsbeihilfe, welche seit 1.1.16 in die Sozialhilfe integriert wurde. Das Gericht hatte unter den gleichen Regeln wie bei der wirtschaftlichen Hilfe zu beurteilen, ob die Sozialhilfe zu recht einen Konkubinatsbeitrag angerechnet hat. Die Mutter hatte vier Kinder. Das vierte Kind war das gemeinsame Kind mit dem Partner, welcher den Konkubinatsbeitrag leisten sollte. Unbestritten war ebenfalls, dass es eine intakte Beziehung war, woraus das gemeinsame Kind hervorging. Der Partner hatte aber seine Schriften in einer anderen Gemeinde hinterlegt, wo er bei seiner Mutter ein Zimmer zur Untermiete hatte. Er gab an, dort seinen Lebensmittelpunkt zu haben und sich auch regelmässig aufzuhalten (Erw. 4.a). Das Gericht hielt zunächst fest, dass es nicht darum geht, zu beurteilen, wo der Partner seinen zivil-, sozialhilfe- oder steuerrechtlichen Wohnsitz hat. Vielmehr gehe es darum zu beurteilen, ob ein stabiles Konkubinat vorliegt, wovon der Wohnsitz ein Indiz im Rahmen der Gesamtwürdigung sein kann. Da die subjektive Voraussetzung – die Beziehung als Paar – vorlag, rückte es die Frage ins Zentrum, ob die regelmässigen Aufenthalte bei Mutter und Kind die Qualität des Zusammenlebens im Sinne der SKOS-Richtlinien erfüllten oder ob diese effektiv blosse Besuche darstellten (Erw. 4.b). Im konkreten Fall kam es zum Schluss, dass es sich nicht lediglich um Besuche handelt, sondern von einem Zusammenleben auszugehen ist. Für die ausschlaggebenden Elemente verweise ich auf Erw. 5 des Urteils, das der Antwort beigelegt ist. Für Ihren Fall heisst dies, dass der separate Wohnsitz lediglich ein Indiz ist, welches gegen ein stabiles Konkubinat spricht. Wenn hingegen weitere Sachverhaltselemente in überwiegender und klarer Weise für ein Zusammenleben sprechen, dann ist es rechtlich vertretbar von einem stabilen Konkubinat auszugehen und das Paar als stabiles Konkubinat zu betrachten.

Fazit: Auch bei getrennten Wohnorten kann von einer Wohn- und Lebensgemeinschaft im Sinne eines stabilen Konkubinats ausgegangen werden, wenn die sorgfältig abgeklärten Sachverhaltselemente nach dem Grundsatz der überwiegenden Wahrscheinlichkeit für das Zusammenleben am Wohnort der unterstützten Person sprechen. In diesem Fall dürfte neben der anteilsmässigen Kostenverteilung auch ein Konkubinatsbeitrag angerechnet werden, sofern die finanziellen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

Die Frage, ob eine Auflage gemacht werden dürfte, womit die unterstützte Person verpflichtet würde, mit dem nicht unterstützten zusammenzuziehen, stellt sich nur noch dann, wenn aufgrund der gesamten Sachlage davon ausgegangen werden müsste, dass das Paar nicht zusammenlebt, es sich also lediglich um blosse Besuche des nicht unterstützten Partners handelt und das Paar offensichtlich Wert darauf legt, getrennt zu leben, obschon es eine gemeinsame Familie hat.

Ob eine solche Auflage statthaft wäre, bin ich mir nicht sicher, da mit einer solchen Auflage in die persönliche Freiheit (Art. 10 BV), in den Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) und unter Umständen in die Niederlassungsfreiheit (Art. 24) eingegriffen würde und für den nicht unterstützten Partner dafür keine rechtliche Grundlage besteht. Jedenfalls kann nicht die Beistandspflicht wie bei der Ehe als Grundlage genommen werden. Die gleiche Problematik stellt sich rechtlich ja auch beim Konkubinatsbeitrag. Dieser rechtfertigt sich unter dem Blickwinkel des Subsidiaritätsprinzips jedoch, weil bei einem Zusammenleben des Paares es eine Erfahrungstatsache ist, dass sich Konkubinatspaare ähnlich wie bei einem Ehepaar gegenseitig unterstützen, wenn von einem stabilen Konkubinat ausgegangen werden kann. Lebt das Paar tatsächlich nicht zusammen und beschränkt es seine Paarbeziehung und das Familienleben auf blosse Besuche, sehe ich keine Grundlage, das Zusammenleben mit einer Auflage zu erzwingen. Es handelt sich aber um eine Frage, die meines Wissens im Bereich Sozialhilfe von keinem Gericht behandelt wurde.

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen Ihre Frage beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder  

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