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Fürsorgerische Unterbringung / Begutachtung von Minderjährigen

Veröffentlicht:
20.10.2023
Kanton:
Thurgau
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Guten Tag

Im Zusammenhang mit der Unterbringung von Minderjährigen gegen ihren Willen aufgrund einer psychischen Krankheit oder Krise in einer psychiatrischen Klinik kamen bei unserer Kindesschutzbehörde verschiedene Fragen auf. Es wurde festgestellt, dass bezüglich diesen Fragen in der Literatur unterschiedliche Auffassungen vorhanden sind. Gleichfalls unterschiedliche Auffassungen bestehen innerhalb der Kindesschutzbehörde. Wir wären deshalb froh um Ihre Einschätzung der folgenden Fragen:

  1. Notwendigkeit des Entzugs des Aufenthaltsbestimmungsrechts / Einweisungskompetenz der Eltern: Mehrfach kam es vor, dass die Jugendlichen mit der Einweisung in eine psychiatrische Klinik nicht einverstanden waren, die Inhaber der elterlichen Sorge dies jedoch explizit unterstützten. Die Klinik akzeptierte in diesen Fällen jeweils die Einweisung durch die Eltern nicht. In der Folge stellte sich die Frage, ob den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen werden muss. Yvo Biderbost (FamPra.ch 2019 S. 351, 367-369) ist der Ansicht, dass dies nicht notwendig und unverhältnismässig ist, wenn die Eltern die Einweisung unterstützen. Luca Maranta lehnt diese Auffassung gestützt auf die Gesetzessystematik ab (OFK – ZGB Kommentar, 2021, Art. 314b N 8). Zudem ist seiner Ansicht nach eine behördliche Unterbringung nur notwendig, wenn die Eltern ihr Kind nicht in die Einrichtung zu bringen vermögen, da die Inhaber der elterlichen Sorge Kinder, die die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik ablehnen, in solchen Institutionen platzieren (OFK – ZGB Kommentar, 2021, Art. 314b N 3 und 8). Peter Breitschmid führt demgegenüber aus, Art. 314b regle die Unterbringung in einer Einrichtung i.S.v. Art. 426 im Rahmen eines Obhutsentzugs nach Art. 310 und aufgrund des Verweises von Art. 314b auf die für die FU einschlägigen Regeln von Art. 426 ff. fehle den Eltern auch bei uneingeschränkter elterliche Sorge die Kompetenz zur Einweisung (BSK ZGB I – Peter Breitschmid, 2022, Art. 314b N 1).

    Haben die Eltern (mit uneingeschränkter elterlicher Sorge) Ihrer Ansicht nach die Kompetenz, ihr Kind gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik einzuweisen?

    Falls die Eltern die Einweisung unterstützen und die Klinik diese nicht akzeptiert: Ist ein Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts notwendig?
     
  2. Grundlage für Einweisung im ZGB: Weiter stellte sich die Frage, was die materielle Grundlage für die Einweisung eines Minderjährigen in die psychiatrische Klinik ist. Yvo Biderbost (FamPra. 2019 S. 351, 368) führt aus, es sei angebracht und ehrlicher, Art. 426 ZGB heranzuziehen. Luca Maranta führt aus, die materiellen Voraussetzungen für die Unterbringung in der psychiatrischen Klinik richten sich nach Art. 310 ZGB (OFK – ZGB Kommentar, 2021, Art. 314b N 6).

    Auf welche gesetzliche Grundlage soll sich die Kindesschutzbehörde bei der Einweisung Ihrer Ansicht nach stützen? Welche Kriterien sind zur Beurteilung hinzuzuziehen, die von Art. 310 oder jene von Art. 426 ZGB?
     
  3. Einweisung zur Begutachtung: Peter Breitschmied erklärt, eine vorläufige Unterbringung zur Erstellung eines kinderpsychiatrischen Gutachtens könne eine Massnahme nach Art. 307 ZGB sein (BSK ZGB I – Peter Breitschmid, 2022, Art. 314b N 3). Es handle sich qualitativ um einen Obhutsentzug nach Art. 310, der ggf. als stationäre Begutachtung i.S.v. Art. 499 angeordnet werde (N 3), was ein Vorgehen nach der Ordnung von Art. 310/314 oder Art. 314b/426 ff. gebiete. Luca Maranta ist der Auffassung, dass auch Kinder und Jugendliche gestützt auf Art. 314 Abs. 1 i.V.m. Art. 449 ZGB begutachtet werden können, sofern das Einverständnis der Inhaber der elterlichen Sorge fehle. Die Rechtsprechung stütze die Begutachtung demgegenüber auf Art. 310 bzw. auf Art. 307 Abs. 3 ZGB.

    Auf welche gesetzliche Grundlage soll sich die Kindesschutzbehörde bei der Einweisung in eine psychiatrische Klinik zur Begutachtung Ihrer Auffassung nach stützen? 

    Ist ein Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts notwendig, wenn die Eltern einverstanden sind, die Klinik die Einweisung durch die Eltern jedoch nicht akzeptiert? 

    Spielt die voraussichtliche Dauer der Begutachtung und damit des Aufenthalts in der Klinik für die Beurteilung der beiden Fragen eine Rolle?
     

Die zitierten Stellen der Literatur wurden stark verkürzt wiedergegeben. Für Ihre Bemühungen und die Beantwortung der Fragen bedanken wir uns im Voraus bestens.

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Grüezi

Besten Dank für Ihre Anfrage. Es hat etwas gedauert, ich musste mich einlesen.

Leider kann ich Ihnen keine rechtliche Einschätzung abgeben, nach welcher Lehrmeinung Sie vorgehen und welche Lehrmeinung Sie innerhalb der Behörde favorisieren sollen.

Die KESB muss als Behörde eine Entscheidung treffen, allenfalls muss das Präsidium entscheiden, welcher Lehrmeinung zu folgen ist. Ich kann nicht abschätzen, wie ein Gericht entscheiden und ob und welcher Lehrmeinung es folgen würde. Eine gutachterliche Expertise, die hier nicht geleistet werden kann, liesse letztlich auch offen, wie ein Gericht entscheiden würde.

Nach Rücksprache mit der Geschäftsstelle kann ich Ihnen - unter dieser Prämisse - ein paar Hinweise geben. Diese «Beratung» ist kostenlos und wird Ihnen nicht verrechnet.

Isabel Geissberger hat sich in ihrer Dissertation mit den «Rechtsgrundlagen der fürsorgerischen Unterbringung Minderjähriger unter Berücksichtigung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Bundesverfassung» befasst (Geissberger Isabel, Die Rechtsgrundlagen der fürsorgerischen Unterbringung Minderjähriger unter Berücksichtigung der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Bundesverfassung, Diss. Zürich 2019). Und in der FamPra ist folgender Beitrag erschienen: Geissberger Isabel, Die fürsorgerische Unterbringung Minderjähriger de lege ferenda, in FamPra.ch 2020, S. 287-313, 288. Geissberger setzt sich mit den von Ihnen erwähnten Kontroversen ausführlich auseinander. Allenfalls kann Ihnen diese Literatur in der Entscheidfindung weiterhelfen.

Muss das Kind in einer geschlossenen Einrichtung oder in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, so sind, nach Art. 314b ZGB, die Bestimmungen des Erwachsenenschutzes über die fürsorgerische Unterbringung sinngemäss anwendbar. Die FU Minderjähriger wird somit in einem Verweis geregelt. Die herrschende Lehre und Rechtsprechung sieht in Art. 314b Abs. 1 ZGB einen stillschweigenden Verweis auf Art. 310 ZGB, der die Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts in allgemeiner Weise regelt. Geissberger hält fest, «dass die herrschende Lehre und Rechtsprechung von einer Rechtsgrundlage entgegen dem Wortlaut der Bestimmung in Art. 314b Abs. 1 ZGB – nämlich der Verweisung auf die sinngemässe Anwendung der erwachsenenschutzrechtlichen Bestimmungen – ausgeht und daraus für die Praxis eine diffuse Rechtslage resultiert» (Geissberger, FamPra 2020, 288). Aus Lehre und Rechtsprechung lassen sich keine klaren Schlussfolgerungen über den Umfang des Verweises ableiten (Geissberger, FamPra 2020, 291 f.).

Nach Geissberger hat die Auslegung von Art. 314b Abs. 1 ZGB ergeben, dass der Verweis als umfassender Verweis auf alle erwachsenenschutzrechtlichen Bestimmungen über die fürsorgerische Unterbringung zu qualifizieren ist und dass der sachliche und systematische Zusammenhang mit Art. 310 ZGB nicht genügt, um Art. 314b Abs. 1 ZGB dahingehend auszulegen, dass Art. 314b Abs. 1 i.V.m. Art. 310 ZGB als einzige materiell-rechtliche Grundlage für eine fürsorgerische Unterbringung dienen kann, weil dies dem Wortlaut von Art. 314b Abs. 1 ZGB widersprechen würde» (Geissberger, FamPra 2020, 300 f.).

Geissberger kommt in ihrem Aufsatz zum Schluss, dass Art. 314b Abs. 1 ZGB aufgrund der Nennung der geschlossenen Einrichtung und der psychiatrischen Klinik zwei unterschiedliche Unterbringungsgründe voraussetzen. «Zum einen ist eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung aus erzieherischen Gründen oder aufgrund einer psychischen Störung möglich, und zum anderen kann eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik nur aufgrund einer psychiatrischen Indikation zulässig sein. Die Unterbringungsgründe werden jedoch in Art. 314b Abs. 1 ZGB nicht näher definiert, und auch Art. 310 ZGB als Verweisungsobjekt, welches nach herrschender Lehre und Rechtsprechung die materiell-rechtliche Grundlage darstellt, regelt die Unterbringungsgründe zu wenig bestimmt, um eine genügende gesetzliche Grundlage für einen Freiheitsentzug darzustellen. Die Normenkombination aufgrund des ausdrücklichen umfassenden Verweises in Art. 314b Abs. 1 i.V.m. Art. 426 ZGB erwähnt zwar die Unterbringungsgründe genügend bestimmt, aber es fehlt dabei eine Regelung über die Unterbringung aus erzieherischen Gründen. Diese Erkenntnisse führen zum Schluss, dass eine klare und ausdrückliche Regelung, welche die unterschiedlichen Anwendungsbereiche einer fürsorgerischen Unterbringung Minderjähriger regelt, notwendig wäre» (Geissberger, FamPra 2020, 301 f.). Nach Geissberger stellen die Normenkombination von Art. 314b Abs. 1 i.V.m. Art. 310 ZGB keine Rechtsgrundlage für eine fürsorgerische Unterbringung dar (Geissberger, FamPra 2020, 302).

Die FU Minderjähriger ist ein Freiheitsentzug, der auch bei Kindern gegen oder ohne ihren Willen angeordnet wird. «Bei der Anordnung einer Unterbringung ist auf den Willen des urteilsfähigen Kindes abzustellen und nicht auf den Willen der Eltern. Ist das Kind nicht urteilsfähig, aber lässt sich erkennen, dass es mit einer Unterbringung nicht einverstanden ist, die Eltern jedoch einwilligen, muss der Wille des Kindes trotzdem berücksichtigt werden, und zum Schutz des Kindes ist auch bei Einwilligung der Eltern die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung angezeigt, denn diese richtet sich primär an das Kind und ermöglicht es ihm erst, von den spezifischen Verfahrensrechten Gebrauch zu machen. Liegt die Einwilligung des urteilsfähigen Kindes vor, aber die Eltern willigen nicht ein bzw. leisten Widerstand, ist die Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach Art. 310 ZGB anzuordnen, es ist aber nicht notwendigerweise eine fürsorgerische Unterbringung anzuordnen, weil die Unterbringung nicht gegen den Willen des Kindes ist» (Geissberger, FamPra 2020, 288 f.)

Art. 449 ZGB regelt die stationäre Begutachtung und Abs. 2 verweist sinngemäss auf das Verfahren der FU. Abs. 1 der Bestimmung stellt die gesetzliche Grundlage der Einweisung dar. Bei Widerstand des Kindes oder der Eltern könnte, im Sinne der obigen Ausführungen die Haltung vertreten werden, die stationäre Begutachtung auf Art. 314b i.V.m. Art. 449 ZGB abzustützen.

Da es sich bei der FU von Minderjährigen um einen schweren Grundrechtseingriff handelt, gebe ich persönlich der Variante, die den stärksten Rechtsschutz gewährt, den Vorzug.

In der ZKE 2020, S. 487-506 finden Sie den Beitrag von Martin D. Küng und Liliane Denise Minder «Die fürsorgerische Unterbringung von Minderjährigen – im Spannungsfeld zwischen Freiwilligkeit und Zwang». Auch diese Autoren setzen sich mit den von Ihnen erwähnten Kontroversen ausführlich auseinander. Und, wie soll es anders sein, sie vertreten nicht ganz die gleiche Ansicht wie Geissberger. Auch diese Literatur kann Ihnen ggf. weiterhelfen.

Die Fürsorgerische Unterbringung wird gegenwärtig evaluiert. Der Bundesrat hat sich am 16. Dezember 2022 mit dem Schlussbericht «Evaluation der Bestimmungen zur fürsorgerischen Unterbringung (FU; Art. 426 ff. ZGB)» vom 2. August 2022 beschäftigt. Das EJPD wird dem Bundesrat voraussichtlich bis Ende 2024 einen Bericht über die Evaluation der fürsorgerischen Unterbringung von Minderjährigen vorlegen. Gestützt auf die Ergebnisse der beiden Evaluationen wird der Bundesrat im Anschluss über eine allfällige Revision der Bestimmungen zur FU sowohl für Erwachsene als auch für Minderjährige entscheiden (vgl. zum Ganzen https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-92242.html).

Ich hoffe, die Angaben sind trotzdem nützlich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 6. November 2023

Karin Anderer