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Frage zur Pflicht, als junger Erwachsener bei den Eltern leben zu müssen

Veröffentlicht:
21.12.2021
Kanton:
Wallis
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Art. 21 bst. b Abs. 3 regelt die Wohnsituation von jungen Erwachsenen. Dem Artikel kann entnommen werden, dass dieser Personenkreis ausser in begründeten Ausnahmefällen bei den Eltern leben muss. Hieraus ergeben sich, bezogen auf die Umsetzung in der Praxis, Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung des Artikels.

 

  • Welche Fachlichkeit ist gefordert, damit eine Ausnahmesituation fachlich begründet und anerkannt werden kann? (reicht ein Schreiben eines Hausarztes? Was kann unter dem Hinweis «sonstige entscheidungsberechtigte Stelle» verstanden werden?)
  • Wie sieht die Situation bei Minderjährigen aus, wenn häusliche Gewalt als Thema Bestandteil der Situation ist? (Muss eine minderjährige Person trotz erkannter häuslicher Gewalt bei ihren Eltern leben?)
  • Was wird bei der Entscheidungsfindung höher gewichtet: das Kindswohl oder die finanziellen Interessen der öffentlichen Hand? (Ein Beispiel dazu: Eltern leben getrennt, Elternteil A hat mit minderjährigem Kind den Haushalt verlassen und sich an die Opferhilfe gewendet. Für Elternteil A wurde eine Wohn-Anschlusslösung gefunden (Studio), minderjähriges Kind will mit volljährigem Geschwister eine Wohngemeinschaft bilden. Gesetzgeber verlangt, dass das Minderjährige Kind zu Elternteil A zieht, obwohl Elternteil A aufgrund der aktuell prekären Wohnangebotssituation in der Region (keine verfügbaren freie Wohnungen) keine geeignete Wohnung finden konnte. Hier stellt sich noch grundsätzlich die Frage, was ist zumutbar, muss ein eigenes Zimmer vorhanden sein, wenn die minderjährige Person zu Elternteil A ins Studio ziehen muss? Lage des Studios, wenn dieses viel weiter weg ist zum Ausbildungso.)

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Es geht bei dieser um zwei Themen:

  1. Die Indikation bei jungen Erwachsenen, welche die Unzumutbarkeit des Zusammenlebens mit den Eltern im gleichen Haushalt begründen kann.
  2. Die Frage, ob minderjährige Kinder stets im gleichen Haushalt mit den Eltern bzw. einem Elternteil leben müssen, oder ob Gründe des Kindeswohls (u.a. Raumbedarf Kind, Weg zum Ausbildungsort) ein Getrenntleben rechtfertigt.

 

1. Zur Indikation bei nicht finanziell unabhängigen jungen Erwachsenen ohne abgeschlossene Ausbildung (Art. 4 Abs. 5 GES i.V.m. Art. 21 Abs. 3 VES)

Art. 21 Abs. 3 VES hält fest, dass ein Arzt oder eine sonstige entscheidungsberechtigte Stelle ein Ausnahmefall ordnungsgemäss begründen können. Der Weisung über die Anwendung des Gesetzes über die Eingliederung und die Sozialhilfe (vom 1. Juli 2021, nachfolgend Weisung) kann entnommen werden,  dass ein ausführlicher Bericht einer sozialen, medizinischen oder therapeutischen Behörde besondere Rechtfertigungsgründe begründen kann. Die Weisung schränkt damit die in der VES erwähnten entscheidberechtigten «Stellen» auf «Behörden» ein. Diese Einschränkung wird nicht weiter begründet, wobei die Entscheidungsberechtigung den Schluss schon zulässt, dass damit hoheitliche Befugnisse gemeint sind. Es könnte aber auch eine von dem betroffenen jungen Erwachsenen ermächtigte Stelle gemeint sein. Jedenfalls lässt sich aus der VES ableiten, dass eine ärztlich begründete Indikation Grundlage für eine Ausnahme bilden kann. Dies kann eine selbständig erwerbende Ärztin (Fachärztin oder Allgemeinmediziner) sein oder ein Spitalarzt oder in einem anderen beruflichen Kontext tätiger Arzt (z.B. Suchthilfe). Die Ärztin sollte meiner Meinung nach eine Spezialisierung aufweisen, in deren Rahmen sie sich mit sozialen Aspekten der Patienten befasst, mitunter die familiäre Situation und das Wohnen ein Thema sein kann, dazu eignen sich am ehesten Psychiaterinnen und Hausärzte. Ferner kann es eine soziale, medizinische oder therapeutische Behörde sein. Darunter könnte beispielsweise die KESB oder eine staatliche Familienberatungsstelle, Suchtberatungsstelle, Bewährungshilfe fallen, wobei nur bei der Ersteren die Entscheidberechtigung vorliegt. Ob es weitere Behörden mit dieser Stossrichtung im Wallis gibt, entzieht sich meinen Kenntnissen. Falls weder eine Ärztin noch eine Behörde im Einzelfall eine Bestätigung abgeben kann, bin ich der Meinung, dass aufgrund des in der VES verwendeten Begriffs «Stellen», auch private Fachstellen eine Bestätigung abgeben könnten, z.B. die psychologische Psychotherapeutin, soweit sie über eine entsprechende Vollmacht verfügen. Der Arzt oder die entscheidberechtigte Stelle sollte laut Weisung ein ausführlicher Bericht vorlegen. Damit wird gemeint sein, dass aus fachlicher Perspektive in nachvollziehbarer Weise und widerspruchsfrei begründet wird, warum das Zusammenwohnen nicht zumutbar ist, letztlich nur ein Getrenntleben die einzige Alternative darstellt.

 

2. Minderjährige Kinder, Gründe für Getrenntleben

Nach Art. 38 Abs. 1 VES in Verbindung mit Art. 29 GES bilden u.a. die Eltern und ihre minderjährigen Kinder im gleichen Haushalt eine Unterstützungseinheit. Sie bilden auch dann eine Unterstützungseinheit, wenn das Kind aufgrund eines Studiums oder einer Ausbildung nicht am Wohnsitz des Hilfesuchenden lebt, wobei in diesem Fall der Grundbedarf angepasst wird. Art. 38 Abs. 2 VES lässt damit durchblicken, dass ein ausbildungsbedingtes Getrenntleben durchaus zulässig ist, sofern keine andere Lösung möglich ist. Zur Wohnungsgrösse wird weder im GES noch in der VES etwas erwähnt. Die Weisungen enthalten unter Ziff. 18.2 Grundsätze dazu, welche sich auf die Festlegung des Mietzinsansatzes beziehen. Danach muss berücksichtigt werden, dass das Kind nicht das Zimmer mit einem der Elternteile teilt. Insofern wird von der Sozialhilfe einen eigenen Zimmerbedarf des Kindes anerkannt, wobei auch zwei Kinder ein Zimmer teilen können. Übertragen auf die von Ihnen geschilderte Situation, ist ein Zusammenleben von Elternteil und Kind in einem Studio, wo das Kind kein eigenes Zimmer hat, auf Dauer nicht zumutbar. Als vorübergehende Notlösung wäre dies zumutbar. Wenn der betreffende Elternteil aus strukturellen Gründen keine andere Unterkunft findet, auch nicht in naher Zukunft, dann muss aus meiner Sicht die Sozialhilfe Hand bieten und für das Kind eine angemessene, alternative Lösung zulassen, was zum Beispiel die WG mit einem anderen Geschwister wäre, sofern die Erziehungsberechtigten einverstanden sind. Letztlich spielt aber sicher das Kindeswohl eine wesentliche Rolle zur Beurteilung, ob die Wohnform zumutbar ist. Dieses ist auch Leitlinie bei der Sozialhilfe und ist auch Grundlage für die Vorgabe, dass Kinder ein eigenes Zimmer haben und nicht jenes der Eltern teilen sollen. Jedenfalls darf die Sozialhilfe finanzielle Interessen nicht über das Kindeswohl stellen. Das Kindeswohl ist aber nicht eine absolute Grösse, sondern vermittelt als unbestimmter Rechtsbegriff einen erheblichen Ermessensspielraum. Soweit mit dem Kindeswohl vereinbar, hat die Sozialhilfe unter anderem auch dem Grundsatz der Angemessenheit der Hilfe Rechnung zu tragen, der Teil des Individualisierungsprinzips (SKOS-RL A.3 Abs. 3) ist. Danach sollen unterstützte Personen nicht bessergestellt werden als jene ohne Anspruch auf Unterstützung, die in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen leben.

Ich hoffe, Ihnen damit die wesentlichen Leitlinien zu Ihren Fragen aufgezeigt zu haben.

Ich wünsche Ihnen auch in dieser besonderen Zeit frohe Festtage.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder