Sehr geehrte Expert*innen
Eine Klientin aus dem Kanton Aargau bezieht bei der Gemeinde A von September 2019 bis Oktober 2020 Sozialhilfe. Während dieser Zeit fordert sie auch Selbstbehalte und Franchisen aus Leistungsabrechnungen der Krankenkasse zurück, welche ihr von der Sozialhilfe dann auch zurückerstattet worden sind. Da sie zwischenzeitlich eine existenzsichernde Arbeitsstelle gefunden hat, wird sie Ende Oktober 2020 aus der Sozialhilfe entlassen. Im Juni 2021 schickt sie der Gemeinde A, in welcher sie immer noch wohnt, Leistungsabrechnungen der Krankenkasse zu, welche sie während ihres Sozialhilfebezugs vergessen hat einzureichen. Sie möchte nun auch von diesen Rechnungen die Selbstbehalte und Franchisen zurückerstattet haben.
Fragen: Ist die Gemeinde A verplichtet diese Kosten rückwirkend zu übernehmen obwohl der Fall seit längerem abgeschlossen wurde und die ehemalige Klientin ein existenzsicherndes Einkommen hat?
Falls Ja, gibt es für solche Rückforderungen eine Verjährungsfrist?
Falls Ja, wäre die Gemeinde A auch dazu verpflichtet, wenn die Klientin, im Oktober 2020 in eine andere Gemeinde gezogen wäre und dort weiterhin Sozialhilfe bezogen hätte?
Besten Dank für Ihre Bemühungen und freundliche Grüsse
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Guten Tag Herr Fenyö
Gerne beantworte ich Ihre Frage.
Es geht dabei um Franchise und Selbstbehalte, die in die Unterstützungsperiode bei der Gemeinde A. fallen, welche damals die Klientin vergass bei der Gemeinde A. einzureichen. Unerwähnt bleibt, ob es sich noch um offene Arztrechnungen oder um offene Rechnungen gegenüber der Krankenkasse handelt oder ob die Klientin damals die Rechnungen aus dem Grundbedarf, ggf. Einkommensfreibetrag oder Integrationszulage bezahlt hat. Auf Letzteres weist hin, da sie erst 7-8 Monate später darauf aufmerksam wurde.
Sie stellen die Leistungspflicht der Sozialhilfe im Grundsatz nicht in Frage, jedoch stellen Sie die Frage, ob der Leistungsanspruch verjährt ist oder aus anderen Gründen weggefallen ist.
Zur Thematik der Rechnungen nach Unterstützungsende nehmen die seit Januar 2021 geltenden SKOS-Richtlinien Stellung, welche aber nicht für den Kanton Aargau gelten, da § 10 SPV auf die Ausgabe 2017 der SKOS-RL verweist. In SKOS-RL C.2 Erläuterung f kommt es auf die Fälligkeit der Rechnung an. Fällt die Fälligkeit der Rechnung in die Unterstützungsperiode, dann geht sie zu Lasten des in dieser Periode zuständigen Sozialhilfeorgans. Grundlage dieser Empfehlung bilden die Übergangsphasen nach Ablösung sowie Wechsel der Unterstützungszuständigkeit, nämlich, wenn in dieser Phase Rechnungen eintreffen sollten. Sie hat also nicht die Situation Ihrer Klientin als Grundlage. Dennoch erscheint es nicht falsch, wenn diese Empfehlung auch bei vorliegender Situation zur Anwendung gelangt. Insoweit tendiere ich dazu, dass die Sozialhilfe die nachträglich aufgefundenen Leistungsabrechnungen für Selbstbehalt und Franchise, deren Fälligkeit in die Unterstützungsperiode fallen, vom Sozialhilfeorgan der Gemeinde A beglichen werden.
Für den Leistungsbezug enthalten weder das Gesetz noch die Verordnung eine Verjährungsregelung, nur für die Rückerstattung der Sozialhilfe gegenüber der unterstützten Person und Erbinnen (§ 22 SPG AG). Selbst wenn nicht geregelt, bildet die Verjährung im öffentlichen Recht ein ungeschriebener Rechtsgrundsatz und bei fehlender Regelung können die Verjährungsregeln des OR zur Anwendung gelangen, dabei sind 5 Jahre oder 10 Jahre (Art. 127 und 128 OR) vorgesehen. Die Sozialhilfe gilt generell als periodische Leistung, so dass grundsätzlich 5 Jahre massgebend sind für Leistungsansprüche, die die Unterstützungsperiode betreffen. Dies führt in Ihrem Fall zum Ergebnis, dass die Forderung der Klientin noch nicht verjährt ist.
Zu guter Letzt könnte das Bedarfsdeckungsprinzip (Kap. A.4 SKOS-RL 2017) noch eine Grenze setzen, wonach nur der aktuelle Bedarf für die Unterstützung massgebend ist, und überwundene Notlagen von der Sozialhilfe nicht finanziert werden. Das Bedarfsdeckungsprinzip betrifft aber die Zeitperiode vor Unterstützung, wohingegen die vorliegenden Rechnungen gerade in die Unterstützungsperiode fallen.
Insgesamt sehe ich kein rechtliches Argument, die Übernahme der nachträglich geltend gemachten Rechnungen zu verweigern. Das würde ich auch so sehen, wenn aktuell eine neue Gemeinde für die Unterstützung der betreffenden Klientin zuständig wäre.
Bei den Ergänzungsleistungen wurde für diese Frage übrigens mit Art. 15 ELG vorgesorgt, wonach eine 15-monatige Verwirkungsfrist gilt, andernfalls würde auch dort die 5-jährige Verjährungsfrist nach Art. 24 ATSG gelten.
Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Fragen beantwortet zu haben.
Freundliche Grüsse
Ruth Schnyder
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Sehr geehrter Herr Fenyö
Im Nachgang zur obigen Antwort möchte ich Sie auf meine heutige Antwort vom 2.9.21 zur Anfrage "Sozialhilferecht: Rückerstattung Arbeitsweg" verweisen, welche weitere Argumente für und gegen eine rückwirkende Übernahme aufzeigen. Letztlich handelt es sich nicht um eine restlos geklärte Rechtslage, so dass verschiedene Positionen in dieser Frage vertrebar sind.
Freundliche Grüsse, Ruth Schnyder