Zum Inhalt oder zum Footer

Finanzierung Kindesschutzmassnahmen durch Sozialhilfe

Veröffentlicht:
21.05.2021
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrte Damen und Herren

Ein Ehepaar mit einer durch Autismusspektrum-Störung ASS beeinträchtigten schulpflichtigen Tochter beantragte bei unserem Sozialdienst die Übernahme einer auf ASS spezialisierten Familienbegleitung/-coaching. Diese Massnahme wurde durch verschiedene Fachinstanzen (z.B. Erziehungsberatung) sowie der Schule empfohlen und ist aus fachlicher Sicht unbestritten.

Gemäss Art. 276 ZGB haben die Eltern u.A. auch für Kindesschutzmassnahmen aufzukommen. Im Kanton BE werden solche Massnahmen praxisgemäss von der Sozialhilfe vorfinanziert und von den Eltern einen Beitrag verlangt, der gemäss Kapitel D.4.2. d) SKOS und Praxishilfe zum erweiterten SKOS-Budget von September 2020 ausgerechnet wird.

Im vorliegenden Fall sind die Eltern als genügend leistungsfähig zu betrachten, dass sie die Kosten der gesamten Massnahmen übernehmen könnten (rund CHF 3000.-/Monat). Sie verweigern jedoch die Unterstützung in diesem Masse.

Frage: Ist der Sozialdienst berechtigt, den Sozialhilfe-Antrag der Eltern auf (Vor-)Finanzierung der Kindesschutzmassnahmen per Verfügung abzulehnen mit dem Argument, es sei genügend Einkommen/Vermögen bei den Eltern vorhanden? Oder müsste der Sozialdienst die Kosten vorleisten und dann von den Eltern auf dem gerichtlichen Klageweg den Elternbeitrag einfordern?

Freundliche Grüsse

G. Heeb

SD Lyss

Frage beantwortet am

Karin Anderer

Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz

Sehr geehrter Herr Heeb

Nach Art. 9 SHG BE wird die Sozialhilfe nur gewährt wird, wenn und soweit eine bedürftige Person sich nicht selber helfen kann oder wenn Hilfe von dritter Seite nicht oder nicht rechtzeitig erhältlich ist. Auch die SKOS RL A.3. weisen auf das Subsidiaritätsprinzip hin.

Nach Art. 23 SHG BE hat Anspruch auf wirtschaftliche Hilfe, wer bedürftig ist, d.h. wer für seinen Lebensunterhalt nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig aus eigenen Mitteln aufkommen kann. Vorliegend ist die Bedürftigkeit des Kindes nicht gegeben, die Eltern können, gemäss Ihren Ermittlungen, für die Kosten der freiwilligen Kindesschutzmassnahme aufkommen. Somit liegt keine Bedürftig vor, was zu einem Nichteintretensentscheid führen würde.

Allerdings sind die Sozialhilfestellen an die Grundrechte gebunden, was dazu führt, dass Art. 11 BV beachtet werden muss: Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Kindern ist im Sozialhilferecht und in der sozialhilferechtlichen Praxis eine besondere Beachtung zu schenken. Hier geht es u.a. um ein kinderspezifisches Existenzminimum, möglicherweise um Teilhabe und entwicklungsbedingte Mehrbedarfe.

Nach 293 Abs. 1 ZGB bestimmt das öffentliche Recht, unter Vorbehalt der Unterstützungspflicht der Verwandten, wer die Kosten des Unterhaltes zu tragen hat, wenn weder die Eltern noch das Kind sie bestreiten können. Die Sozialhilfe ist unabhängig davon, ob die Kindesschutzmassnahme durch die Inhaber der elterlichen Sorge veranlasst, durch die Vormundin angeordnet wurde oder die KESB eine behördliche Kindesschutzmassnahme angeordnet hat, zuständig für die Finanzierung. Das kantonale Recht kann Ausnahmen vorsehen, wie bspw. im Kanton Bern, wo die Kosten von behördlich angeordneten Kindesschutzmassnahmen subsidiär der Kanton und nicht der Sozialdienst trägt.

Freiwillige Kindesschutzmassnahmen werden auf Antrag hin geprüft. Die Abklärung erfolgt durch das Sozialhilfeorgan nach Sozialhilferecht. Regelmässig werden Kostengutsprache (idR subsidiär) erteilt und die Finanzierung der Kindesschutzmassnahme erfolgt nach Sozialhilferecht (ggf. anderes kantonales Recht). Das Sozialhilfeorgan tritt automatisch in den Unterhaltsanspruch des Kindes nach Art. 289 Abs. 2 ZGB ein.

Die SPF scheint indiziert und notwendig zu sein. Was bedeutet die Finanzierungsverweigerung der Eltern für das Kind? Das Kind ist hier ins Zentrum zu stellen. Versagen die Eltern dem Kind die SPF, wenn sie die Kosten alleine tragen müssen? Führt das zu einer Kindeswohlgefährdung?

Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde, nach Art. 307 Abs. 1 ZGB, die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes. Hier hat die Sozialhilfebehörde die Möglichkeit, eine subsidiäre Kostengutsprache zu erteilen und die Eltern gestützt auf Art. 289 Abs. 2 einzuklagen. So wird der verfassungsrechtliche Schutz- und Förderanspruch des Kindes gesichert, ebenso die elterliche Unterhaltspflicht zugunsten des subrogierenden Gemeinwesens. Eine Gefährdungsmeldung an die KESB ist wegen der fehlenden Finanzierungsbereitschaft der Eltern deshalb nicht nötig, weil die SPF über Art. 289 Abs. 2 ZGB gesichert werden kann.

Anhand der Abklärungen werden Sie zu entscheiden haben, ob ein Nichteintretensentscheid das verfassungsmässige Recht des Kindes auf Schutz und Förderung nicht verletzt.

Des Weiteren kommt auch die persönliche Hilfe zum Zuge, hier in Form von Beratung und Abklärung (SKOS RL B.3., Erläuterungen a)  Beratung, Begleitung und Vermittlung). Zu prüfen wäre m.E., ob eine Finanzierungsbeteiligung unter den Titeln „Angebote zur Förderung von Kindern und Jugendlichen“ oder „sonderpädagogische Massnahmen“ möglich wäre, oder ob sozialversicherungsrechtliche Ansprüche bestehen. Auch Unterstützungen über Fonds und Stiftungen wären denkbar.

Betreffend die Finanzierung einer SPF im Kanton Bern, vgl. Metzger Marius, Masoud Tehrani Anoushiravan, Habersaat Cathrin, Ribaut Gabriela, Finanzierung Sozialpädagogischer Familienbegleitung in der Schweiz, in: ZKE 2021, S. 134 ff., S. 140.

Ich hoffe, die Angaben sind nützlich und ich grüsse Sie freundlich.

Luzern, 21.5.2021

Karin Anderer