Guten Tag
Wir haben immer wieder Klieten, die einen Anspruch auf IV erhalten und für die wir rückwirkend EL beantragen.
Nun hatten wir einen Fall, bei dem die EL rückwirkende Leistungen abgelehnt hat mit dem sinngemässen Argument, die IV habe eine verbleibende Erwerbsfähigkeit festgelegt. In diesem Rahmen hätte die Klietin Stellenbemühungen nachweisen müssen. Da sie dies im Antrag nicht nachgewiesen habe, werde rückwirkend keine EL gesprochen.
Uns ist klar, dass Klienten mit einer verbleibenden Erwerbsfähigkeit Stellenbemühungen erbringen müssen, andernfalls ihnen eine hypothetische Einnahme nach Art. 14a ELV zukünftig angerechnet wird. Neu und m.E. stossend ist aber, dass dies Bestimmungn rückwirkend angewendet wird. Dies ist insbesondere in jenen Fällen stossend - und von diesen haben wie einige - bei denen ein Arztzeugnis eine 100% ige Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. In solchen Fällen verlangen wir von den Klienten keine Stellenbemühungen. Im Ergebnis haben diese Klienten dann keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen, obwohl sie 1. von der Sozialhilfe unterstützt werden (Bedürftigkeit ist also ausgewiesen) und 2. voll arbeitsunfähig sind.
Wenn nun die EL auch in solchen Fällen rückwirkend Stellenbemühungen verlangt als Voraussetzung für Leistungen, ist der Sozialdienst quasi gezwungen von den Klienten Alibistellenbemühungen zu fordern - was kontraproduktiv ist.
Besten Dank für eine Rückmeldung, ob dieses Vorgehen (rückwirkende Anrechnung eines hypothetischen Einkommens bei Sozialhilfebeziehenden, die vom Arzt voll arbeitsunfähig geschrieben wurden) rechtmässig ist. Falls das Vorgehen rechtmässig sein sollte, gerne auch eine Empfehlung, wie der Sozialdienst vorgehen soll, um diese stossende Folge zu vermeiden.
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Gnekow
Die von Ihnen genannte Praxis ist mir bekannt.Die Rechtslage zeigt sich hier wie folgt:
1. Ausgangspunkt ist, dass in der Bedarfsrechnung im EL- bei den anrechenbaren Einnahmen, anders als bei der Sozialhilfe, tatsächliche Einkommen, aber auch Verzichtseinkommen und Verzichtsvermögen eingerechnet werden (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG). Dazu gehören auch hypothetische Einkommen.
Bei Teilinvaliden wird dies so konkretisiert, dass Einkünfte aus einer zumutbaren Erwerbstätigkeit eingerechnet werden können (Art. 9 Abs. 5 lit. c ELG i.V.m.Art. 14a ELV).
2. Gemäss Art. 14a ELV soll dafür grundsätzlich der tatsächliche Verdienst angerechnet werden. Mindestens soll aber bei Teilinvaliden unter dem 60. Altesrjahr bei einem IV-Grad von 40-50% von CHF 25720 p.J. ausgegangen werden. Bein einem IV-Grad von 50 bis unter 60% von CHF 19290 p.J. und bei IV-Grad 60 bis unter 70% von CHF 12860 pro Jahr.
Keine Anrechnung erfolgt bei Invaliden mit einem IV-Grad über 70% (Urteil 9C_680/2016 vom 14. Juni 2017 E. 3.4.1).
Die Anrechnung von solchen hypothetischen Einkommen soll gemäss Art. 14a Abs. 3 ELV ebenfalls nicht erfolgen, wenn der IV-Grad im Sinne von Art. 27 IVV für den Haushaltsbereich festgelegt wurde. Bei Fällen der gemischten Methode muss dabei zur Festlegung des relevanten hypothetischen Einkommens der IV-Grad im Erwerbsbereich Berücksichtigung finden (BGE 141 V 343 E. 5.4)!
Ebenso darf das hypothetische Einkommen nicht angerechnet werden bei Personen, die in einer geschützten Werkstätte gemäss IFEG (Art. 3 Abs. 1 lit. a IFEG) tätig sind.
3. Andererseits darf gar ein höheres hypothetisches Erwerbseinkommen eingerechnet werden, wenn die EL-beziehende Person eine ihr zumutbare Tätigkeit freiwillig aufgegeben hat; oder wenn die EL-beziehende Person eine ihr offenstehende Stelle nicht angetreten hat. Ebenso wenn sich die EL-beziehende Person weigert, an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen.
Vgl. BGE 140 V 267; Verwaltungsweisung des BSV an die EL-Stellen: Rz. 3424.04 WEL(Stand 1.1.2020); siehe https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6930/download)
Eine entsprechende Bemessung kann rückwirkend erfolgen, wenn bei der erstmaligen Bemessung eine solche Situation offenbar wird. Falls aber für die Zukunft eine laufende EL aus einem dieser Gründe angepasst werden soll, kann die Anpassung nur mit einer Frist von sechs Monaten nach Verfügungszustellung erfolgen (damit der Betroffene Zeit hat, die entsprechenden Anpassungen vorzunehmen.). Vgl. Rz. 3423.11 WEL.
4. Die Annahme der Möglichkeit zur Erzielung eines hypothetischen Einkommens gilt als widerlegbar Vermutung. Sie kann durch den Nachweis von objektiven oder subiektiven invaliditätsfremden Gründen, welche die Realisierung des Einkommens verhindern oder erschweren, umgestossen werden (BGE 115 V 88; vgl. dazu die Verwaltungsweisung des BSV an die EL-Stellen: Rz. 3424.06 WEL (Stand 1.1.2020); siehe https://sozialversicherungen.admin.ch/de/d/6930/download).
Insbesondere folgende Gründe können gemäss Rz. 3424.07 WEL, wenn belegbar, dazu führen, dass ein hypothetisches Einkommen nicht oder nicht mehr eingerechnet werden kann:
Die versicherte Person findet trotz ausreichender Arbeitsbemühungen keine Stelle. Diese Voraussetzung gilt als erfüllt, wenn die Person beim RAV zur Arbeitsvermittlung angemeldet ist sowie qualitativ und quantitativ ausreichende Stellenbemühungen nachweist;
Die versicherte Person bezieht Taggelder der Arbeitslosenversicherung;
Der Ehegatte der versicherten Person müsste ohne deren Beistand und Pflege in einem Heim platziert werden.
5. Weil für die Unzumutbarkeit des Einkommens die Beweislast bei der versicherten Person liegt, trägt sie die Folgen (= Anrechnung hypothetisches Einkommen), wenn nicht hinreichend nachgewiesen ist, dass das hypothetische Einkommen gar nicht erzielt werden konnte. Zu beachten sind die gesamten Umstände des Einzelfalls wie das Alter; der Gesundheitszustand bei Teilinvaliden; die Sprachkenntnisse, die Ausbildung, die bisherige Tätigkeit, die konkrete Arbeitsmarktlage, die Dauer der Abwesenheit vom Berufsleben, aber auch Pflege- und Betreuungsaufgaben etc. Die Praxis ist allerdings meist mit Blick auf die Schadminderungspflicht streng
6. Auch für die Fälle, wo eine aktuelle Arbeitsunfähigkeit vorliegt, die über das im IV-Entscheid Berücksichtigte hinausgeht, hat sich während der letzten Jahre eine strenge Praxis gebildet.
So gilt: Eine - nicht nur vorübergehende - Verschlechterung des Gesundheits- zustandes ist für den Verzicht auf ein hypothetisches Einkommen der EL im Prinzip nur relevant, wenn sie im Rahmen eine Revision der IV-Rente verlangt wurde und angezeigt ist (BGer_Urteil 9C_108/2019 vom 22.08.2019 E. 4.1).
Ebenso hat das Bundesgericht entschieden, dass hypothetische Einkommen auch bei langfristig medizinisch mehrfach bescheinigter Arbeitsunfähigkeit anrechenbar ist, wenn das IV-Verfahren noch offen ist bzw. war (BGer_Urteil 9C_653/2018 vom 26.07.2019), die IV also noch nicht über den IV-Grad bestimmt hatte.
Auch Arbeitsbemühungen müssen für eine Berücksichtigung langfristig, intensiv und relevant sein, um zu einem Verzicht oder eine Reduktion der Anrechnung von hypothetischen Einkommen zu führen.
7. Verfahrensmässig kann ein hypothetisches Einkommen nicht nur pro futuro, sondern auch in dem Sinne rückwirkend berücksichtigt werden, wenn auch der Anspruch auf EL rückwirkend geprüft und gewährt wird. Weil es hier um eine Frage der Bemessung der EL geht, welche ja auch rückwirkend geprüft werden muss.
Macht die versicherte Person bei der EL-Anmeldung geltend, sie könne keine Erwerbstätigkeit ausüben oder nicht den Betrag entsprechend Art. 14a ELV erreichen, ist seitens der vor der Verfügung abzuklären, ob dies zutrifft. Die versicherte Person kann aufgefordert werden, ihre Behauptung näher auszuführen und zu belegen. Macht sie nichts dergleichen geltend, kann ohne weiteres verfügt werden (Art. 43 Abs. 2 ATSG). (Rz. 3424.09 WEL)
8. Soll also die Chance erhöht werden, dass bei einer Anmeldung von EL kein oder ein tieferes hypothetisches Einkommen eingerechnet wird, so sind bei Teilinvaliden schon bei der Anmeldung unbedingt die (nicht invalidisierenden) Komponenten zu nennen, welche eine reale Erzielung des für den entsprechenden IV-Grad vorgesehenen Einkommens nach Art. 14a ELV unmöglich machen. Idealerweise können die entsprechenden Gründe möglichst gut und lückenlos dokumentiert werden (Betreuungsaufgaben, Sprachprobleme, vorübergehende Erkrankungen, Arbeitslosigkeit…). Namentlich eine entsprechende lückenlose Arbeitssuche, bzw. eine entsprechende Anmeldung und unbeschränkte Mitwirkung beim RAV kann zu einem (partiellen) Wegfall des hypothetischen Einkommens führen.
Ob die von Ihnen angesprochenen, längerfristig wirksamen nicht IV-relevanten Gesundheitsgründe (Schmerzstörungen etc.) hier relevant sein können ist nicht restlos geklärt. Es dürften aber dafür im Lichte der aktuellen Rechtsprechung eher geringe Chancen bestehen. Wenn diese geltend gemacht werden sind sie auf jeden Fall möglichst gut zu dokumentieren mit entsprechenden Arztzeugnissen.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot