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Erbschaft was hat Vorrang bei der Tilgung: Privatschulden oder Rückerstattung bezogene Sozialhilfe?

Veröffentlicht:
24.05.2022
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Sehr geehrte Damen und Herren

Wir haben ein Anfrage betreffend einer Erbschaft. Die betreffende Person hat ihre Erbschaft vollumfänglich dem SD abgetreten und erhielt einen Freibetrag von 4'000.00 CHF. Dabei hatte sie div. Schulden (u. a. Steuerschulden).

Derzeit läuft eine Arbeitsintegration und anscheinend möchte der Anfragende die Schulden tilgen, damit es sich für ihn "lohnt" arbeitstätig zu sein.

Ist es korrekt, dass der Sozialdienst die Erbschaft vollumfänglich einzog? Hätten nicht auch andere Gläubiger berücksichtigt werden müssen? Kann nun im nachhinein noch etwas geändert werden, sodass die "Schuldenlast" geringer wird?

Grundsätzlich gilt das Kredo, dass während dem SH-Bezug keine Schulden abbezahlt werden. Inwiefern muss dies mit dem Integrationsziel der Sozialhilfe abgewogen werden? Welche rechtlichen Argumente können vorgebracht werden, dass nicht an einer strikten Praxis festgehalten werden darf, dass Schulden während dem SH-Bezug nicht getilgt werden dürfen. Welchen Ermessenspielraum sehen sie hier? Gibt es RSTH oder Gerichtsentscheide, welche zur Argumentation herangezogen werden können?

Vielen Herzlichen Dankf für Ihre Rückmeldung!

 

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Müller

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Aufgrund Ihrer Schilderungen ist das Vorgehen des SD als Rückerstattung einzustufen. Denn offensichtlich hat er den Fr. 4'000 übersteigenden Teil einbehalten und somit an bereits erbrachter wirtschaftlicher Hilfe im Sinne der Rückerstattung angerechnet.

Im Fall einer Erbschaft kann eine Rückerstattung nur gestützt auf den Tatbestand der wesentlichen Verbesserung der finanziellen Verhältnisse gemäss Art. 40 Abs. 1 SHG / BE angeordnet werden. Von wesentlich verbesserten Verhältnissen kann bei einem Vermögensanfall – wozu die Erbschaft zählt – bei einer Einzelperson ausgegangen werden, wenn die Erbschaft den Betrag von Fr. 25'000 übersteigt (Art. 11b Abs. 3 SHV / BE).

Ist die Erbschaft weniger als Fr. 25'000, z.B. Fr. 10'000, besteht keine rechtliche Grundlage für eine Rückerstattung. Vielmehr ist dann die unterstützte Person mit der Erbschaft von Fr. 10’000 abzulösen. Eine Ablösung erfolgt im Übrigen auch, wenn jemand rückerstattungspflichtig wird und der Freibetrag gemäss Art. 11b Abs. 3 SHV / BE, d.h. Fr. 25'000, ihm belassen wird (siehe dazu auch der BKSE-Eintrag Ziff. 3 unter dem Stichwort Erbschaften). Mit anderen Worten bei einer Erbschaft ist die unterstützte Einzelperson mit einem Betrag bis zu Fr. 25'000 abzulösen. Der übersteigende Teil unterliegt der Rückerstattung nach Art. 40 Abs. 1 SHG / BE, da sich dann die wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich verbessert haben (Art. 11b Abs. 3 SHV / BE).

Der Sozialdienst hat meiner Meinung nach keine rechtliche Grundlage, den zu Beginn der Unterstützung gewährten Vermögensfreibetrag gemäss SKOS D.3.1 (vgl. dazu BKSE Stichwort Vermögen) nochmals zu gewähren, so auch das BKSE a.a.O. Ziff. 3 sowie unter dem Stichwort Vermögen Ziff. 2.1), bzw. den gesamten Fr. 4'000 übersteigenden Teil einzubehalten bzw. mit erbrachter wirtschaftlicher Hilfe zu verrechnen.

Kann hingegen die unterstützte Einzelperson mit der Erbschaft abgelöst werden, dann müsste bei erneuter Bedürftigkeit der Vermögensfreibetrag von Fr. 4'000 erneut gewährt werden, da die Unterstützung wieder von Neuem beginnt. Dieser Blickwinkel kann eine Erklärung für das Vorgehen des SD im vorliegenden Fall liefern, nämlich dann, wenn bei Ihrem Klienten die Ablösung nur von kurzer Dauer, z.B. 2 Monate, gewesen wäre. Meines Wissens gibt es keine Rechtsprechung zu dieser Frage, obschon sie nicht selten in der Praxis vorkommt. Insgesamt scheint mir aber das Vorgehen des SD mit der Rechtslage grundsätzlich nicht im Einklang zu stehen. Vielmehr wäre korrekt gewesen, den Klienten abzulösen. Dabei müsste er die Erbschaft für seinen Lebensunterhalt verwenden, wobei der Fr. 25'000 überschiessende Teil der Erbschaft der Rückerstattung unterliegen würde.

Wäre aufgrund der dargelegten Rechtslage korrekt gewesen, den Klienten mit der Erbschaft abzulösen, kann er aber das Geld gleichwohl nicht unbesorgt ausgeben und damit eine erneute Bedürftigkeit mutwillig in Kauf nehmen. Denn nach Art. 40 Abs. 4 SHG / BE müssen Personen, die ihre Bedürftigkeit in grober Weise selbst verschuldet haben, die wirtschaftliche Hilfe zurückzuerstatten, die ihnen deswegen ausgerichtet werden muss. Der SD hat in dieser Hinsicht einen erheblichen Ermessensspielraum, der auch im BKSE unter dem Stichwort Rückerstattungspflicht Ziff. 1.4 nicht näher umschrieben wird. Ich könnte mir aber vorstellen, dass das Tilgen von Steuerschulden durchaus als nicht grobes Selbstverschulden eingestuft wird. Dies leite ich aus den folgenden Überlegungen mit Blick auf die Regeln zur Rückerstattung ab:

Besteht (neben der Ablösung) eine Rückerstattungspflicht aufgrund der Erbschaft, da der Vermögensfreibetrag von Fr. 25'000 überschritten ist, kann in Härtefällen auf die Rückerstattung ganz oder teilweise verzichtet werden (Art. 43 SHG / BE). Ein Härtefall liegt gemäss Art. 11c SHV / BE namentlich dann vor, wenn die Rückerstattung

a die Erreichung der gemäss Artikel 27 Absatz 1 SHG vereinbarten Ziele verhindert,

b die Integration gefährdet,

c aufgrund der gesamten Umstände unbillig erscheint oder

d unter Berücksichtigung der finanziellen und persönlichen Situation unverhältnismässig erscheint.

Es ist dabei die Gesamtsituation der betroffenen Person zu würdigen. Es handelt sich um eine Regelung, die dem Sozialdienst einen grossen Ermessenspielraum einräumt, zumal es sich nur um eine Kann-Vorschrift gemäss Art. 43 SHG / BE handelt. Vorgesehen ist ferner, dass die betroffene Person einen (sinngemässen) Antrag stellt.      

Ausserdem wird im BKSE Ziff. 5.3.2 empfohlen, dass vom Rückerstattungsbetrag ausgewiesene Schulden abzuziehen sind, sofern diese vor dem Vermögensanfall entstanden und nachweislich bezahlt worden sind. Ebenfalls abzuziehen sind allfällige auf dem Vermögensanfall erhobene Steuern. Letzteres scheint mir einleuchtend. Wie die Empfehlung zu ausgewiesenen und beglichenen Schulden vor Vermögensanfall zu verstehen ist, scheint mir nicht ganz so klar. Das Berner Verwaltungsgericht 100.2021.59U vom 15. Dezember 2021 Erw. 4.6.3 hat sich denn auch kritisch zu dieser Praxisempfehlung geäussert, darauf verweise ich vorliegend. Mit derselben Frage hat sich das Berner Verwaltungsgericht auch bereits im Urteil 100.2008.23201Ua vom 10. September 2008 Erw. 5.2.1 (siehe Beilage) auseinandergesetzt, worauf ich ebenfalls verweise. Aus dieser Rechtsprechung zur Härtefallregelung (Art. 43 SHG / BE) könnte der Sozialdienst meiner Meinung nach Parallelen zur Frage ziehen, wann nach Ablösung und erneuter Bedürftigkeit infolge Schuldentilgung von der Annahme eines groben Selbstverschuldens abgesehen werden kann. Ausserdem gibt sie auch eine Richtschnur für die Frage, wann von einer Rückerstattung bei einem Vermögensanfall von über Fr. 25'000 ganz oder teilweise abgesehen werden kann. Das wäre vorliegend von Relevanz, wenn die Erbschaft der unterstützten Person mehr als Fr. 25'000 betrug.

Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Fragen beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse, Ruth Schnyder

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