Sehr geehrte Damen und Herren
Fallschilderung:
KL meldete sich am 27.01.2020 für Leistungen der IV bei der IV-Stelle an. Am 13.07.2021 hat KL einen Vorbescheid der IV erhalten. Dabei hat er vom 01.04.2020 - 31.05.2021 einen Anspruch auf eine halbe Rente (Wiederaufleben der Rente) und ab 01.06.2021 Anspruch auf eine ganze Rente. Vom 01.02.2018 - 30.06.2018 hat KL eine ganze Rente bezogen. Gemäss Einkommensvergleich ab 01.06.2021 hat KL gemäs Vorbscheid eine Einschränkung von 100%. KL wurde bis zum Vorbescheid von seiner Hausärztin zu 80% krankgeschrieben und bezog ALTG. KL wird auch weiterhin von seiner Hausärztin zu 80% krankgeschrieben. Die Rahmenfrist für den Bezug der ALTG ist noch nicht aufgebraucht. Die ALK hat nun umgehend auf den Vorbescheid der IV reagiert und die ALK per 01.07.2021 eingestellt, da KL offensichtlich vermittlungsunfähig sei. Darf sich die ALK bereits auf den Vorbescheid der IV stützen und die ALTG vollumfänglich einstellen obwohl KL noch Einwände machen könnte und noch keine Verfügung der IV vorliegt?
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Bucher
Ihr Fall basiert auf der Frage der Vorleistungspflicht der ALV gegenüber der IV hinsichtlich der Frage der Vermittlungsfähigkeit, soweit jemand auch bei einer anderen Sozial- versicherung (hier die IV) angemeldet ist und nicht offensichtlich vermittlungsunfähig erscheint (siehe Art. 15 AVIG, Art. 15 AVIV und Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG).
Von einer offensichtlichen Vermittlungsunfähigkeit ist praxisgemäss dann auszugehen, wenn selbst eine Restarbeitsfähigkeit von 20% nicht (mehr) besteht. Dann besteht die Vorleistungspflicht nicht (mehr).
Gemäss der neueren Rechtsprechung gilt dabei Folgendes.
Ist nicht von einer offensichtlichen Vermittlungsunfähigkeit auszugehen und ist die behinderte Person grundsätzlich bereit, im Umfang der allenfalls in einer ärztlichen Diagnose festgestellten Arbeitsfähigkeit eine als zumutbar erachtete Arbeit anzunehmen (mindestens 20 %), hat sie aufgrund der Vorleistungspflicht der ALV Anspruch auf eine volle ALE. Das bedeutet, die Vermittlungsbereitschaft bei arbeitslosen Neubehinderten muss sich nur auf ein Pensum beziehen, das der ärztlich attestierten Arbeitsfähigkeit entspricht (BGE 8C_651/2009 vom 24.3.2010).
Gemäss der bundesgerichtlichen Praxis (BGE 142 V 380) darf schon mit einem nicht rechtskräftigen Vorbescheid eine Anpassung des versicherten Verdienstes vorgenommen werden, wenn dieser einen IV-Grad von mindestens 70 % ankündigt. Der Vorbescheid mit IV-Grad von weniger als 70 % reicht für die Anpassung des versicherten Verdienstes ebenfalls aus, wenn dagegen innert gesetzter Frist keine Einwände erhoben wurden.
Die Vorleistungsflicht endet bei einem Vorbescheid mit IV-Grad über 80 % per sofort, da dann eine offensichtliche Vermittlungsunfähigkeit anzunehmen ist. Die Vorleistungspflicht endet ebenso mit einem rechtskräftigem IV-Beschluss.
Siehe dazu die aktuelle Fassung der Verwaltungsweisungen zur ALV (AVIG-Praxis, Stand 1.7.2021, Rz. B 254ff. und C 29Siehe https://www.arbeit.swiss/secoalv/de/home/service/publikationen/kreisschreiben---avig-praxis.html).
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot