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Einstellung WSH - fehlende Zuständigkeit bei unsteten Personen

Veröffentlicht:
31.03.2022
Kanton:
Luzern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

 

Ich führe für Herrn O. eine Beistandschaft nach Art. 394 ZGB i.V.m. Art. 395 ZGB (Vertretungsbeistandschaft Finanzen und Admin) und eine Mitwirkungsbeistandschaft nach Art. 396 ZGB beim Abschluss und Kündigung von Mietverträgen mitzuwirken.

 

Herr O. ist IV/EL-Bezüger. Er lebte bis Ende Oktober 2020 in einer Wohnung in der Gemeinde B (Wohnung wurde vom Vermieter gekündigt). Danach lebte er in verschiedenen Hotels, auf der Strasse, bei Verwandten und Bekannten an verschiedenen Orten in der Schweiz. Wo genau sich Herr O. wann aufhielt ist nicht klar zu eruieren.

 

Herr O. hätte im Mai 2021 eine längere Haftstrafe antreten sollen. Dies hat er nicht getan. Die IV-Rente und die Ergänzungsleistungen wurden eingestellt. Bei der Gemeinde B. wurde im Mai 2021 Antrag auf Sozialhilfe gestellt, welcher auch gutgeheissen wurde. Das Sozialamt übernahm die Krankheitskosten.

Im Januar 2022 stellt sich Herr O. und trat die Haft an. Aktuell befindet er sich in einem ausserkantonalen Gefängnis. Er wird vermutlich frühstens 2024 entlassen.

 

Die Gemeinde B. stellt nun die Sozialhilfe ein, mit folgender Begründung:

Die Polizei habe im Februar 2021 Abklärungen getroffen und festgestellt, dass Herr O. seit Oktober 2020 nicht mehr in B. wohne. Herr O. habe in einem Telefongespräch im Februar 2021 gegenüber der Polizei erklärt, dass er sich in Basel aufhalte, ohne eine konkrete Adresse anzugeben. Daraufhin hat die Gemeinde B. im Dezember 2021 die rückwirkende Abmeldung auf Februar 2021 verfügt. Das Sozialamt habe nun Kenntnis davon erhalten. Der gesetzliche Wohnsitz von Herrn O. sei bei Anmeldung (Mai 2021) nicht mehr in der Gemeinde B. gewesen, daher werde der Entscheid aufgehoben und die bereits geleistete Sozialhilfe wird zurückgefordert.

 

Die Gemeinde B. bezieht sich auf Art. 9 ZUG.

 

Meine Fragen nun:

-Bleibt der Unterstützungswohnsitz nicht bei der Gemeinde B, da Herr P. unstet war, sich in Hotels oder bei anderen Personen aufgehalten hat bzw. nicht mit Absicht des dauernden Verbleibs weggezogen ist. Die Wohnung wurde ja von Seiten Vermieter gekündigt.

-Sollte der Entscheid der Gemeinde B. rechtens sein, welche Behörde ist dann für die Ausrichtung der Sozialhilfe zuständig, bei Personen, deren Aufenthalt alle paar Tage wieder änderte? Muss dies durch das Sozialamt B. geklärt werden oder durch mich als Vertreterin der betroffenen Person?

 

Die Einsprachefrist läuft per 11. April 2022 aus.

 

Vielen herzlichen Dank für die Unterstützung.

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich folgende Rückfragen stellen:

  • Die Bedürftigkeit des Klienten ist für die Rückforderungszeit nicht in Frage gestellt?
  • Der Klient hat ausschliesslich Krankheitskosten bezogen? Handelt es sich dabei um Selbstbehalt und Franchise und allenfalls von der Krankenkasse nicht finanzierte gesundheitliche Kosten? Mit anderen Worten es geht nicht um die Krankenkassenprämie?
  • Die Gemeinde hat keine eigenen Abklärungen beim Klienten durchgeführt?
  • Wollte Ihr Klient denn zurück in die Gemeinde B.? Hat er sich auf eine Weise darum bemüht?
  • Gibt es gesundheitliche Gründe z.B. Sucht für diesen unsteten Lebenswandel?

Besten Dank und freundliche Grüsse

Ruth Schnyder

Guten Tag

Vielen Dank für die Rückfragen.

Gerne beantworte ich die Fragen wie folgt:

Nein, die Bedürftigkeit ist nicht in Frage gestellt. Der Klient hat nach Einstellung von IV-Rente und EL keine Einkünfte und auch kein Vermögen. Die Gemeinde B. hat mit Entscheid vom November 2021 die Unterstützung verfügt und die örtliche und sachliche Zuständigkeit bejaht.

Die Sozialhilfe hat bisher zwei volle Prämien der Krankenkasse (KVG) bezahlt. Dies wird nun zurückgefordert. Sonst wurde noch nichts bezahlt.

Soweit ich dies aus dem Entscheid sehe, hat die Gemeinde keine eigenen Abklärungen beim Klienten durchgeführt. Sie beziehen sich ausschliesslich auf das Telefonat im Februar 2021 zwischen meinem Klienten und der Polizei.

Gegenüber der vorherigen Beiständin hat er gemäss Akteneinträgen vor der Gerichtsverhandlung und vor der Kündigung der Wohnung in der Gemeinde B. erklärt, er würde während der Haftdauer gerne die Wohnung in B. behalten. Ob weitere Bemühungen stattgefunden haben, ist für mich nicht mehr nachvollziehbar.

Ja, es besteht eine langjährige Suchterkrankung.

Vielen Dank für die Beantwortung der Frage.

Freundliche Grüsse

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

 

Guten Tag

Ich danke Ihnen für die weiteren Angaben.

Handelt es sich um Krankenkassenprämien, stellen diese gemäss § 31 SHG/LU in Verbindung mit SKOS-RL C.5. Abs. 2 und Erläuterung b) insoweit wirtschaftliche Hilfe dar, als die Prämienverbilligung nicht die gesamten KVG-Prämien zu decken vermögen. Dies ergibt sich auch aus Art. 3 Abs. 2 ZUG. Nach Luzerner Handbuch zur Sozialhilfe C.5.1 stellen die Krankenkassenprämien sogar insgesamt keine Sozialhilfe dar. Die Luzerner Gemeinden bzw. deren zuständige Sozialbehörde sind deswegen auch verpflichtet, dem Sozialversicherungszentrum über Beginn und Ende der wirtschaftlichen Sozialhilfe Meldung zu machen (§ 6 Abs. 2 Prämienverbilligungsverordnung/LU). Sozialhilfebeziehende haben Anspruch auf die volle Vergütung der Richtprämie (§ 6 Abs. 1 Prämienverbilligungsverordnung/LU). Die Finanzierung der vom Sozialversicherungszentrum ausgerichteten Prämienverbilligungen bei Sozialhilfebeziehenden liegt bei den Gemeinden (§ 10 Prämienverbilligungsgesetz/LU). Die von den Gemeinden finanzierten Prämienverbilligungen stellen aber keine wirtschaftliche Hilfe dar. Ob im vorliegenden Fall diese Meldung erfolgt ist, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls muss meiner Meinung nach die Sozialhilfe, soweit die Prämienverbilligungen (noch) nicht fliessen, diesen Anspruch nach den Grundsätzen der Prämienverbilligung handhaben. Dasselbe gilt, wenn sie die ausgerichteten Prämienverbilligungen nach § 10 Abs. 1 Prämienverbilligungsgesetz/LU (re-)finanziert hat. Eine Rückerstattung von Prämienverbilligungen käme nur nach § 21 Prämienverbilligungsgesetz/LU in Frage. Zuständig für eine allfällige Rückerstattung wäre aber dann das Sozialversicherungszentrum, wobei unter dem Blickwinkel der örtlichen Zuständigkeit es vorliegend keinen Rechtsgrund geben würde, die Prämienverbilligung zurückzufordern. Denn Anspruch auf Prämienverbilligung hat, wer den steuerrechtlichen Wohnsitz im Kanton Luzern hat (§ 5 Prämienverbilligungsgesetz/LU). Den steuerrechtlichen Wohnsitz besitzt, wer die Absicht dauernden Verbleibens im Kanton Luzern hat (§ 8 Abs. 2 Steuergesetz/LU). Dieser bleibt solange bestehen, bis ein neuer Wohnsitz begründet wird (§ 8 Abs. 3 Steuergesetz/LU). Es handelt sich um den sogenannten fiktiven Wohnsitz, den auch das ZGB in Art. 24 Abs. 1 kennt. Im vorliegenden Fall hat Ihr Klient mit dem unsteten Lebenswandel in steuerrechtlicher Hinsicht keinen neunen Wohnsitz begründet, falls er überhaupt seinen bisherigen Wohnsitz aufgegeben hat. Insoweit hat er nach wie vor Anspruch auf die Prämienverbilligung nach Luzern Prämienverbilligungsgesetz. Die Sozialhilfe darf deshalb nicht die Krankenkassenprämien zurückfordern. Höchstens allenfalls im Umfang des die höchste Prämienverbilligung übersteigenden Teils.

Aber auch gegen die Rückerstattung von wirtschaftlicher Hilfe gibt es gewichtige Einwände:

Nach § 39 SHG/LU ist die wirtschaftliche Hilfe zurückzuerstatten, wenn sie unrechtmässig erwirkt wurde. Wie Sie erwähnt haben, ist die Bedürftigkeit Ihres Klienten nicht in Frage gestellt, sondern lediglich die örtliche Zuständigkeit. In diesem Fall wäre eigentlich die Richtigstellung nach Art. 28 ZUG das richtige Instrument für die Gemeinde, welche nachträglich realisiert, dass eine andere Gemeinde bzw. ein anderer Kanton für eine bedürftige Person hätte die wirtschaftliche Hilfe erbringen müssen. In diesem Fall kann die Gemeinde über ihre kantonale ZUG-Stelle das Richtigstellungsverfahren einleiten und falls sie damit erfolgreich ist, bekommt sie die ausgerichtete wirtschaftliche Hilfe vom effektiv zuständigen Kanton rückvergütet. Fordert sie die Unterstützung wie vorliegend vom Klienten zurück, bekommt sie das Geld  wohl nie zurück, da der Klient – weil bedürftig – weder über die finanziellen Mittel verfügt, noch diese rückwirkend beim effektiv zuständigen Kanton geltend machen kann, da die wirtschaftliche Hilfe immer nur für die Zukunft ausgerichtet wird. Aus meiner Sicht ist es unbillig, wenn die Gemeinde anstelle das Verfahren nach Art. 28 ZUG einzuleiten, die ausgerichtete wirtschaftliche Hilfe beim Klienten zurückfordert, wenn die Bedürftigkeit nicht in Frage gestellt ist. Insoweit bin ich der Meinung, dass die Wiedererwägungsvoraussetzungen gemäss § 116 VRG/LU in solchen Fällen nicht gegeben sind, um auf eine rechtskräftige Verfügung zurückzukommen.

Hinzu kommt, dass bei der Abklärung der Frage, ob die Gemeinde örtlich zuständig ist, elementare Verfahrensregeln ausser Acht gelassen hat. Sie hätte den Klienten bei der Sachverhaltsabklärung einbeziehen müssen, was sich aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt. D.h. die Gemeinde hätte ihn bzw. Sie als Beiständin mit der Information der Polizei konfrontieren und allfälligen gegenteiligen Indizien und Einwänden nachgehen müssen. Dies ist in sozialhilferechtlicher Hinsicht auch dann nötig, wenn die Einwohnergemeinde die Abmeldung im Einwohnerregister nach Registerrecht vornimmt. Denn die Eintragung im Einwohnerregister bildet bei der Feststellung der örtlichen Zuständigkeit lediglich ein Indiz – mehr nicht. Beim Wegzug ist sie nur ausschlaggebend, wenn der Zeitpunkt des Wegzuges strittig ist (Art. 9 Abs. 2 ZUG). Sie ist aber nicht ausschlaggebend, wenn der Wegzug überhaupt strittig ist, was vorliegend der Fall ist. Mit anderen Worten die Gemeinde darf sich nicht einfach auf die Angaben der Polizei, zumal diese auch vage sind, und die polizeiliche Abmeldung stützen, um die örtliche Zuständigkeit zu verneinen. Vielmehr hätte sie den Klienten dazu befragen müssen.

Aber auch unter weiteren Gesichtspunkten des Zuständigkeitsrechts scheint mir der Entscheid der Gemeinde fragwürdig zu sein. Bei Suchtabhängigen hat das Bundesgericht festgehalten, dass bei diesem Klientel keine hohen Anforderungen an die Begründung des Unterstützungswohnsitzes gestellt werden dürfen. Das Bundesgericht lehnt es insoweit ab, die Unterstützungszuständigkeit bei dieser Personengruppe regelmässig mit Hilfe der Aufenthaltszuständigkeit (Art. 11 ZUG) zu lösen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2A.420/1999 vom 2.5.2000 Erw. 6). Mit dieser Rechtsprechung ist meiner Meinung nach auch nicht vereinbar, wenn die Gemeinde ohne vertiefte Prüfung einfach den Wegzug nach Art. 9 ZUG annimmt. Dies notabene rückwirkend, nachdem sie selber die Zuständigkeit aufgrund des Gesuches vom Mai 2021 bejaht hat. Dagegen spricht auch, da der Klient seine Wohnung durch Kündigung verloren hat und womöglich zur Behebung der Obdachlosigkeit sich in Basel aufhielt. Die Behebung der Obdachlosigkeit ist ein Sonderzweck (wie z.B. eine längere Reise), der nicht dazu führt, dass der bisherige Unterstützungswohnsitz beendet wird. Entscheidend ist, dass die betroffene Person die Absicht hat, wieder zurückzukehren, und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch dafür einsetzt. Dies wurde offensichtlich vorliegend nicht geklärt. Dass sich der Klient mehrere Monate nach Verlust der Wohnung in derselben Gemeinde zum Sozialhilfebezug angemeldet hat, weist aber doch immerhin auf eine gewisse Verbundenheit hin, auch dass er sich nicht selber von der Einwohnergemeinde abgemeldet hat. Im Mai 2021 hatte die Gemeinde offenbar auch keine Zweifel an ihrer örtlichen Zuständigkeit. Sie hätte also im Zeitpunkt der rückwirkenden Neubeurteilung im April 2022 auch die Umstände genau klären müssen. Dazu gehört, dass sie die äusserlichen Indizien abklärt und den Klienten zu seinen Absichten befragt. Denn der Unterstützungswohnsitz leitet sich aus dem subjektiven Element «der Absicht» und den objektiven Elementen ab, die sich aus der äusserlichen Gestaltung der Lebensverhältnisse ergeben (vgl. das oben zitierte Bundesgerichtsurteil Erw. 6.a). Alleine gestützt auf die Angaben der Polizei und der Abmeldung im Einwohnerregister erscheint die Annahme des Wegzugs und damit Verneinung eines Unterstützungswohnsitzes als nicht rechtens.

Zu guter Letzt führt dieser Entscheid auch dazu, dass der Klient für die Zukunft keine wirtschaftliche Hilfe mehr erhält, obschon er darauf angewiesen sein dürfte. Auch unter diesem Aspekt hätte die Gemeinde sich darum bemühen müssen, dass geklärt ist, wer für ihn aufkommen müsste. Andernfalls droht ein negativer Kompetenzkonflikt, falls die potentiell zuständige Gemeinde ebenfalls die örtliche Zuständigkeit verneint. Ein solcher negativer Kompetenzkonflikt ist nach Rechtsprechung verpönt und sollte vermieden werden (Urteil des Bundesgerichts 2A.55/2000 vom 27. Oktober 2000 E.4.b), weil dieser zu Lasten eines Hilfsbedürftigen geht. Wie interkantonal negative Kompetenzkonflikte vermieden werden können, kann dem betreffenden Merkblatt der SKOS entnommen werden. Innerhalb vom Kanton Luzern wird es mit § 16 Abs. 4 SHG/LU gelöst. D.h. die Gemeinde muss einstweilen bezahlen, bei welcher als Erstes das Unterstützungsgesuch anhängig gemacht wurde.

Ich rate Ihnen also, gegen die Verfügung der Luzerner Gemeinde Einsprache zu erheben und auch Akteneinsicht zu verlangen, und so weitere Argumente vorzubehalten. Ich hoffe, Ihnen damit auch Ihre weiteren Fragen beantwortet sind. 

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder

Sehr geehrte Frau Schnyder

Vielen herzlichen Dank für die ausführliche Beantwortung!

Freundliche Grüsse