Ich habe einen volljährigen Klienten, der urteilsunfähig ist (Wachkoma). Er ist nicht ansprechbar und kann seine eigene Meinung nicht persönlich äussern. Seine Eltern möchten für ihn die Einbürgerung anstreben. Ich bin als Vertretungsbeiständin für die Bereiche Wohnen, Administration und Finanzen eingesetzt. Seine persönliche Meinung zu diesem Thema ist mir unbekannt. Als die Beistandschaft errichtet wurde, war er bereits im Wachkoma. Wie sieht die rechtliche Lage aus? Ist für diesen rechtlichen Vorgang überhaupt eine Vertretung möglich?
Frage beantwortet am
Urs Vogel
Expert*in Kindes- und Erwachsenenschutz
Erwägungen:
Die vorliegende Frage kann nur allgemein beantwortet werden, da es im konkreten auf die speziellen Umstände des Einzelfalls ankommt. Grundsätzlich sind für die Einbürgerung von ausländischen Staatsangehörigen die formalen (Art. 9 Bürgerrechtsgesetz [BüG; SR. 141.0]) und die materiellen Voraussetzungen (Art. 11 und 12 BüG) massgebend. Das Bundesgericht hat in seinem wegleitenden Entscheid vom 13. Mai 2013 Ausführungen zur korrekten Umsetzung des Bürgerrechtsgesetzes bei behinderten Personen gemacht (BGE 139 I 169).
Die betroffene Person muss bei der Gesuchstellung eine Niederlassungsbewilligung besitzen und bei der Gesuchstellung einen Aufenthalt von insgesamt zehn Jahren in der Schweiz nachweisen, wovon drei in den letzten fünf Jahren vor Einreichung des Gesuchs (Art. 9 BüG).
Bezüglich der materiellen Voraussetzungen muss die einbürgerungswillige Person erfolgreich integriert, mit den schweizerischen Lebensverhältnissen vertraut sein und keine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz darstellen (Art. 11 BüG), wobei die Integrationskriterien in Art. 12 BüG noch näher umschrieben werden und der zuständige Kanton weitere Integrationskriterien vorsehen kann.
Im Weiteren ist vorliegend massgebend, dass gemäss Art. 8 Abs. 2 Bundesverfassung (BV; SR. 101) niemand diskriminiert werden darf, ausdrücklich nicht wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Gemäss Fallbeschreibung ist die betroffene Person aufgrund des Wachkomas weder ansprechbar, noch kann seitens der Beiständin seine persönliche Meinung respektive sein mutmasslicher Wille eruiert werden. Würde man nun unbesehen die materiellen Einbürgerungskriterien anwenden, würde dies zu einer Diskriminierung der betroffenen Person aufgrund seiner Behinderung führen. Daher sind bei der Umsetzung der gesetzlichen Einbürgerungskriterien die konkreten Fähigkeiten der behinderten Personen zu berücksichtigen bzw. die Einhaltung der entsprechenden Voraussetzungen ist in einer an den spezifischen Möglichkeiten der betroffenen Person ausgerichteten und diese angemessen würdigenden Art und Weise zu prüfen (BGE 139 I 169, 175 E. 7.2.4).
Gemäss Bundesgericht schliesst das Gesetz die Einbürgerung mangels Urteilsfähigkeit nicht nur nicht aus, sondern sieht es sogar ausdrücklich vor, insbesondere in Bezug auf Kinder (siehe dazu Art. 31 bezüglich Vertretung von Minderjährigen), was auch auf volljährige urteilsunfähige Personen sinngemäss anzuwenden ist. Gesetzliche Vertretung von urteilsunfähigen Volljährigen ist somit möglich und notwendig. Ob dazu die allgemeine Formulierung der Vertretung in administrativen Angelegenheiten ausreicht, muss mit der zuständigen KESB rückbesprochen werden. Ich gehe davon aus, dass die allgemeine Kompetenz nicht ausreichend ist.
Nun ist im Einzelfall zu prüfen, was für eine Einbürgerung der betroffenen urteilsunfähigen Person spricht (Lebensgeschichte, Integration trotz Behinderung, objektive Interessen an der Einbürgerung, allenfalls Berücksichtigung der familiären Verhältnisse etc.). Zusammenfassend wäre zu beurteilen, ob eine urteilsfähige Personen in einer ähnlichen Lebenssituation mit vergleichbarem Lebenshintergrund selbst ebenfalls ein Einbürgerungsgesuch gestellt hätte. Wird dies bejaht, dann muss die Einbürgerung vorgenommen werden, es sei denn, dass ein gewichtiges und legitimes öffentliches Interesse für eine Verweigerung der Einbürgerung sprechen würde, die eine Diskriminierung der betroffenen Person rechtfertigen würde.
Sie finden den BGE unter: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?highlight_docid=atf%3A%2F%2F139-I-169%3Ade&lang=de&zoom=&type=show_document
Kulmerau, 22. Februar 2021
Urs Vogel