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Darf der Sozialdienst von einem tiefen Krankentaggeld Rückerstattungen an die Sozialhilfe verrechnen?

Veröffentlicht:
24.09.2024
Kanton:
Bern
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Frau X befindet sich seit Mitte 2023 in stationärer psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung. Sie ist arbeitsunfähig seit November 2022. Per Ende 2022 hat sie ihr Arbeitsverhältnis selbst gekündigt. Bei der Krankentaggeldversicherung bestand aber eine Nachdeckung für den bestehenden Krankheitsfall. Daher bezog sie bis und mit April 2024 ein KTG in der Höhe von CHF 2000.00 pro Monat. Aufgrund ihrer schlechten Verfassung reichte sie ab dann keine AUF-Zeugnisse mehr ein, war aber weiterhin voll arbeitsunfähig, was sich auch belegen lässt. 

Frau X wohnte in dieser Zeitspanne teilweise für kurze Zeit in betreuten Wohnen. Hatte aber mehrheitlichen überhaupt keine Miete zu bezahlen und war immer wieder stationär hospitalisiert. Während der Monate in denen ein betreutes Wohnen finanziert werden musste bestand ein Anspruch auf Sozialhilfe. Mehrheitlich aber aufgrund der tiefen anrechenbaren Ausgaben einen deutlichen Einnahmenüberschuss. Aufgrund des Eintritts in ein betreutes Wohnen wurde sie ab Oktober 2023 im Rahmen der Sozialhilfe unterstützt.

Der Sozialdienst stellt im Frühling 2024 nicht fest, dass das KTG  noch hätte geltend gemacht werden können. Frau X geht es mittlerweile besser und sie hat die AUF-Zeugnisse nachträglich eingereicht. Nun wird seit ungefähr Mai 2024 bis und mit September 2024 ein monatlich Überschuss über dem sozialden Existenzminimum von CHF 1200.00 monatlich resultieren. Per Austritt aus der Klinik Ende Oktober 2024 werden die anrechenbaren Ausgaben voraussichtlich wieder so hoch sein, dass ein Sozialhilfeanspruch besteht (Austritt Klinik, neu Wohnungsmiete und erhöhter Grundbedarf). Die Klientin wäre zudem froh um weitere Sozialhilfeunterstützung, da auch hohe Krankheitsselbstbehalte und Tranportkosten usw. anfallen).

Der Sozialdienst möchte nun den KTG-Überschuss verwenden, um Rückerstattungszahlungen (Finanzierung betreutes Wohnen im Oktober und November 2023 und von Februar bis April 2024) zu bezahlen. Darf das Geld so eingesetzt werden?

Frau X hat zudem eine Steuerrechnung für das Jahr 2023 über CHF 1200.00 erhalten. Wir werden ein Steuererlassgesuch prüfen lassen. Falls dies nicht gelingt: hat der Sozialdienst den Ermessensspielraum, den Überschuss der letzten Monate zur Finanzierung der Steuerrechnung zu verwenden?

Der Sozialdienst hat uns bisher stark vermittelt, dass Frau X die Steuerrechnung selbst bezahlen muss. Bei einem monatlichen Einkommen von nicht einmal CHF 800.00 für Grundbedarf und Krankenkasse erscheint dies etwas zynisch. 

Wichtiger Nachtrag: Sozialdienst und Klinik befinden sich im Kanton Bern, wo Frau X auch weiterhin wohnhaft bleibt. 

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Guten Tag

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Wie ich Ihren Schilderungen entnehme, hat oder wird die Klientin für die Monate Mai bis und mit September 2024 eine Nachzahlung der Krankentaggelder erhalten. Dieses wurde damals eingestellt, da sie ab Mai 2023 ihre Arbeitsunfähigkeit nicht mehr mit Arztzeugnissen belegte. Der Sozialhilfe ist es damit erlaubt, ihre in der mit der Nachzahlung deckungsgleichen bzw. kongruenten Zeitperiode erbrachte wirtschaftliche Hilfe abzurechnen (Art. 40 Abs. 3 SHG BE; zum Kongruenzerfordernis Art. 8 Abs. 1 SHV BE i.V.m. SKOS-RL E.2.2; siehe auch Guido Wizent, Sozialhilferecht, alphaius, 2. Auflage, Dike 2023, Rz. 790 f.). Da die Sozialhilfe im Regelfall Krankentaggelder gleich wie Lohnzahlungen im Folgemonat anrechnet (siehe Guido Wizent, a.a.O., Rz. 721), darf sie damit die wirtschaftliche Hilfe abrechnen, welche für die Monate Juni bis und mit Oktober bestimmt war, die aber jeweils im Vormonat, d.h. z.B. für den Juni Ende Mai zur Auszahlung gelangte. Ergibt sich ein Überschuss, wie Sie darlegen, darf die Sozialhilfe diesen nicht mit vorperiodischen Leistungen, z.B. jenen vom Oktober 2023 bis und mit Mai 2024 verrechnen.

Hingegen ist es zulässig, von der unterstützten Person zu erwarten, dass sie den Überschuss ab Auszahlung für die Folgezeit verwendet. Diesbezüglich ist anzumerken, dass vorliegend zusätzlich geprüft werden müsste, wie weit die letzte Auszahlung der wirtschaftlichen Hilfe zurückliegt. Falls von einer zwischenzeitlichen Ablösung ausgegangen werden müsste, müsste die Sozialhilfe bei erneuter Bedürftigkeit Ihrer Klientin einen Vermögensfreibetrag nach Art. 8n SHV BE zugestehen.

Ferner ist auf Art. 40 Abs. 5 SHG BE hinzuweisen. Danach muss die wirtschaftliche Hilfe zurückerstattet werden, wenn die Bedürftigkeit grob selbst verschuldet wurde. Ausserdem wird die wirtschaftliche Hilfe bei selbstverschuldeter Bedürftigkeit gekürzt (Art. 36 Abs. 1 SHG BE). Wann ein grobes Selbstverschulden vorliegt, wird im Einzelfall geprüft. Dazu führt das Handbuch Sozialhilfe der BKSE Folgendes aus: «Ein Selbstverschulden liegt vor, wenn die unterstützte Person die Verantwortung für sich selbst nicht trägt, die ein verständiger Mensch in der gleichen Lage für sich tragen würde. In leichten, begründeten Fällen kann von einer Kürzung abgesehen werden.» Nach meinem Dafürhalten kann die Bezahlung der Steuern nicht im Sinne eines groben Selbstverschuldens zum Vorwurf gemacht werden, wenn die Steuerbehörde keine Erlassmöglichkeit zugesteht, und die Klientin - um eine Betreibung zu vermeiden - aus dem Überschuss letztendlich die Steuerschulden begleicht, statt für den alltäglichen Unterhalt zu verwenden. Sicher ist von Vorteil, (auch) diese Frage mit dem Sozialdienst vorgängig zu klären.

Ich hoffe, Ihnen damit Ihre Anfrage beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder