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Berichterstattung an die IV: soziale Aspekte

Veröffentlicht:
09.07.2020
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialversicherungsrecht

Ich bin Sozialarbeiterin in einer psychiatrischen Klinik. Wir müssen einen Bericht an die IV verfassen bzgl. folgender Situation:

Patientin, bei der eine komplexe Traumafolgestörung diagnostiziert worden ist, die seit vielen Jahren in  psychiatrischer Behandlung ist, befindet sich auf sozialer Ebene in einer höchst komplexen Situation. Sie hat aufgrund ihrer Ehe mit einem EU-Bürger, der in der Schweiz lebt als Familiennachzug vor 9 Jahren in die Schweiz kommen können (lebt damals in Österreicht, ist aber Staatsbürgerin eines aussereuropäischen Landes). Sie hat eine C-Aufenthaltsbewilligung nun beantragt, bisher aber B-Ausweis. Sie selbst kann seit Jahren aus gesundheitlichen Gründn nicht arbeiten und ist völlig abhängig vom Einkommen ihres Ehemannes. Dieser ist selbständig und sein Einkommen ist schon länger nur knapp existenzsichernd. Aufgrund der grassierenden Pandemie hat sich die Einkommenssituation zusätzlich verschlechtert. Aufgrund des neuen Ausländerrechts hat die Klientin zu Recht die Befürchtung, dass sie ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren könnte, falls sie länger sozialhilfeabhängig wäre. Eine Rückkehr ins Herkunftsland ist aufgrund drastischer traumatisierender Erfahrungen im Krieg dort unvorstellbar für die Klientin. Beide Eheleute können sich daher nicht zu einer Sozialhilfeanmeldung entschliessen und leben lieber in grosser finanzieller Not. Die Ehe ist zudem massiv durch Konflikte belastet bis hin zu häuslicher Gewalt. Zudem bräuchte die Patientin eigentlich zur weiteren Stabilisierung für eine gewisse Zeit eine betreute Wohnform. Aber auch diese ist natürlich nicht finanzierbar ohne Sozialhilfe. Wie erwähnen wir diese sozialen Aspekte im Bericht der IV auf eine adäquate Art und Weise, ohne dass es zum Schaden der Klientin ist. Wichtig ist, dass die gesundheitlichen Beeinträchtigungen aus unserer Sicht kausal funktionelle Leistungseinbussen im Arbeitsleben zur Folge haben, was den meisten Menschen, welche die Details der Situation kennen unmittelbar einleuchten dürfte. 

Frage beantwortet am

Daniel Schilliger

Expert*in Sozialversicherungsrecht

Guten Tag

Das ist eine schwierige Frage. Sie zielt darauf ab, dass die IV sogenannte iv-fremde Faktoren nicht berücksichtigen darf, da gemäss Art. 7 ATSG ausschliesslich die gesundheitlichen Folgen zu berücksichtigen sind. 

Das Bundesgericht anerkennt zwar, dass sich soziokulturelle und psychosoziale Faktoren oft nicht klar trennen lassen von einem objektivierbaren medizinischen Leiden. Trotzdem berechtigen psychische Erkrankungen, die durch soziale Umstände verursacht werden und nach Wegfall dieser Belastungsfaktoren wieder verschwinden, nicht zu IV-Leistungen (9C_830/2007 und viele mehr).

Als Faustregel gilt: Je mehr dieser iv-fremden Faktoren vorliegen, desto ausgeprägter muss eine davon unterscheidbare fachärztlich diagnostizierbare psychische Störung mit Krankheitswert vorhanden sein (BGE 127 V 294). 

Entscheidend scheint mir, dass sich die medizinischen Fachpersonen auf ihr eigentliches Handwerk fokussieren, das heisst medizinisch argumentieren. Ausgangspunkt ist also die Befunderhebung nach medizinischen Kriterien und gestützt darauf eine klare Diagnosestellung gemäss den ICD-10 Kriterien. Auch Ausführungen zur Arbeitsfähigkeit sollten mit diesen medizinischen Befunden begründet werden.

Oft wird mit schwierigen sozialen Umständen argumentiert, um die Schwere einer Krankheit und Dringlichkeit einer Unterstützung zu untermauern. Das ist eher kontraproduktiv. Gleichwohl ist man zur Wahrheit verpflichtet und es wäre nicht korrekt, Faktoren zu verschweigen, wenn sie das Krankheitsbild klar verursacht haben, mitbestimmen oder aufrechterhalten.

Die iv-fremden Faktoren treten insbesondere dann in den Hintergrund, wenn sich die Krankheit relativ unabhängig davon entwickelt. Hier kann ein Blick in die Krankengeschichte bzw. Anamnese helfen. Oft sind soziale Faktoren Auslöser eine Verschlimmerung. Das schliesst IV-Leistungen nicht unbedingt aus. Entscheidender ist, ob diese Faktoren das Krankheitsbild auch weiterhin massgeblich aufrechterhalten oder ob sich insbesondere rückblickend die Krankheit auch schon unabhängig davon manifestiert hat.

Mit Blick auf die neue Rechtsprechung zum strukturierten Beweisverfahren wird das Ganze noch ein wenig komplexer. Denn nun fliessen solche «äusseren» Faktoren durchaus wieder in die Bewertung ein. Unter dem Kriterium Konsistenz wird nämlich geprüft, ob sich die geltend gemachten Einschränkungen auch tatsächlich im Verhalten einer Person zeigen, z.B. in dem sie ihren Hobbies nicht mehr nachgehen kann oder nicht in der Lage ist für die Familie zu kochen oder aber täglich mit dem Hund spazieren geht (was als Ressource gedeutet werden kann) usw. In diesem Kontext kann es sinnvoll sein aufzuzeigen, welche Aktivitäten durch die Krankheit eingestellt werden mussten, was sich in einem Vorher/Nachher Vergleich des Alltages und Freizeitverhaltens zeigen kann.

Mehr zum strukturierten Beweisverfahren gemäss BGE 141 V 281 finden Sie im Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) RZ 1006 und Anhang VI. Evtl. hilft auch www.iv-pro-medico.ch ein bisschen weiter.

Freundlicher Gruss

Daniel Schilliger