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Beitragsfähigkeit Eltern bei Platzierungen junger Erwachsener

Veröffentlicht:
25.06.2021
Kanton:
Wallis
Status:
Beantwortet
Rechtsgebiet:
Sozialhilferecht

Guten Tag

Meine Unklarheiten beziehen sich auf die Berechnung der Beitragsfähigkeit von Eltern bei Platzierungen.

Ein junger Erwachsener (18 Jahre) ist in einer Institution platziert. Eine Platzierungsbewilligung liegt vor.

Seine Eltern sind geschieden. Er hat ein Geschwister, welches bei der Mutter wohnt. Der Vater bezahlt für ihn und sein Geschwister Unterhalt.

Seine Mutter hat nach der Scheidung wieder geheiratet. Aus dieser Ehe sind zwei Halbgeschwister entstanden.

Der aktuelle Haushalt von der Mutter besteht somit aus 5 Personen: Ein Geschwister, zwei Halbgeschwister, der jetzige Ehemann, welcher nicht der leibliche Vater ist und die Mutter selbst.

Ist der jetzige Ehemann, welcher nicht der biologische Vater des jungen Erwachsenen ist, unterstützungspflichtig? Müssen seine Einnahmen und sein Vermögen in der Berechnung der Beitragsfähigkeit der Mutter berücksichtigt werden?

Vielen Dank

Freundliche Grüsse

Shadya Lavado

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Lavado

Ich möchte noch kurz zurückfragen: Handelt es sich um eine Platzierung im Kanton Wallis oder ausserkantonal? Falls ja, in welchem Kanton? Und hat das Heim die IVSE-Anerkennung?

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder

Werte Frau Schnyder

Besten Dank für Ihr Nachfragen. Zur Situation: die Platzierung findet im Kanton Luzern in einem Heim statt, welches die IVSE-Anerkennung besitzt.

Freundlicher Gruss aus dem Wallis

Shadya Lavado

Frage beantwortet am

Ruth Schnyder

Expert*in Sozialhilferecht

Sehr geehrte Frau Lavado

Gerne beantworte ich Ihre Anfrage.

Vorausschicken möchte ich Folgendes: Fällt die Unterbringung des jungen Erwachsenen in den Bereich A der IVSE, kommt die Beitragspflicht der Eltern im Rahmen von Art. 22 IVSE zum Tragen, soweit sie nach Art. 276 ff. ZGB überhaupt unterhaltspflichtig sind. Art. 22 IVSE beschränkt die Beiträge auf die mittleren Tagesauwendungen für Kost und Logis, d.h. Fr. 25 bis Fr. 30 pro Tag (SVK-Kommentar zu Art. 22 IVSE). Höhere Beiträge für die Unterbringung dürfen demnach bei ausserkantonaler Unterbringung von den Eltern nicht belangt werden. Und auch nur dieser Beitrag darf bei fehlender bzw. ungenügender Leistungsfähigkeit der Sozialhilfe belastet werden (Art. 22 Abs. 2 IVSE). Dazu kommen die Nebenkosten (Kleider, Sackgeld usw.), die zusätzlich durch die Eltern zu finanzieren sind und wofür die Sozialhilfe ebenfalls einspringen muss, wenn die Eltern nicht bzw. ungenügend leistungsfähig sind.

 

Unterhaltsbeitrag der Eltern bzw. Beurteilung deren Leistungsfähigkeit

Ob die Eltern leistungsfähig sind, beurteilt sich grundsätzlich nach dem ZGB. Aus Art. 31 GES geht hervor, wovon sich die Sozialhilfe leiten lässt, um den vorrangigen Unterhaltsanspruch beziffern zu können, um eine aussergerichtliche Einigung zu erzielen. Nach Art. 31 Abs. 5 GES legt das Departement in einer Weisung die Berechnungsgrundlagen für diese Beiträge fest. Massgebend ist die Weisung zur Anwendung des Gesetzes über die Eingliederung und die Sozialhilfe vom 1. Juli 2021 (nachfolgend: Weisung). Soweit die Weisung, welche vor dem 1. Juli in Kraft war, abweichende Regelungen zur Elternbeitragsbemessung enthält, wären für die Zeit vor dem 1. Juli 2021 diese zu beachten.

Der Vollständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass das Jugendgesetz (JG) im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt. Die Bestimmungen von Art. 30 ff. JG zur Platzierung beziehen sich meiner Meinung nach auf Kinder, da es sich um eine Massnahme zum «Schutz» (Kap. 5) handelt und die diesbezügliche Zielsetzung des JG sich auf Kinder bezieht (Art. 3 Abs. 1 lit. e JG) und Kinder als unter 18-jährige definiert werden (Art. 1 JG), ihr Klient aber bereits 18 Jahre alt ist. Dennoch ist die Weisung, welche sich in Kap. 24 auf das JG bezieht anwendbar, wenn der junge Erwachsene während der Platzierung volljährig wurde. Wie es sich in Ihrem Fall sich verhält, ist mir nicht bekannt. Dennoch würde ich sagen, dass die nachfolgenden Ausführungen auf die Situation der Unterbringung nach Volljährigkeit übertragbar sind.

Vorrang haben nach Kap. 26 der Weisung bestehende Unterhaltsregelungen und nur wenn sich die Situation eindeutig verändert hat (vgl. dazu Art. 286 ZGB), hat das SMZ eine eigene Beurteilung vorzunehmen. Aufgrund der Wiederverheiratung der Mutter, der Halbgeschwister hat sich die Situation verändert, so dass es gerechtfertigt ist, die Situation gestützt auf Kap. 17.1 der Weisung, auf Basis des erweiterten Budgets neu zu beurteilen, wobei die Besonderheiten von Kap. 29 der Weisung zu berücksichtigen sind, insb. Berücksichtigung eines Vermögensverzehrs und die Höhe des Beitrags, welche dem Überschuss entspricht.

 

Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils

Und nun komme ich zur eigentlichen Frage: Wie sind dabei die finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils zu berücksichtigen? Dazu kann weder dem GES, der GEV noch der Weisung etwas entnommen werden. Die SKOS-RL, welche im Wallis subsidiär zu Gesetz, Verordnung und Weisungen gelten, halten in der Erläuterung a) zu SKOS-RL D.4.2 fest, dass Stiefeltern ihren Ehegatten in der Erfüllung der Unterhaltspflicht gegenüber vorehelichen Kindern in angemessener Weise beizustehen haben (Art. 278 Abs. 2 ZGB). In Bezug auf die Bemessung wird ferner ausgeführt, dass dabei zu berücksichtigen ist, dass Stiefeltern allenfalls eine vorrangige Unterhaltspflicht gegenüber eigenen Kindern haben (Art. 276a ZGB). Bei der Erläuterung d) zu den Elternbeiträgen (ebenfalls SKOS-RL D.4.2) werden Grundsätze zum Einbezug des Stiefelternteils aufgestellt: Das Einkommen und Vermögen von Stiefeltern ist bei der Bemessung von Elternbeiträgen angemessen zu berücksichtigen (Art. 278 Abs. 2 ZGB) und es sind individuelle Verhandlungslösungen zu suchen, weil das Konfliktpotential in solchen Fällen besonders gross sei.

Aber auch die SKOS-RL halten nicht genau fest, wie die finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils zu berücksichtigen sind.

 

ZGB: Regelung, Lehre und Rechtsprechung

Die Bestimmung von Art. 278 Abs. 2 ZGB, welche die SKOS-RL erwähnen und die Berücksichtigung der finanziellen Verhältnisse der Stiefeltern erlaubt, hält Folgendes fest: «Jeder Ehegatte hat dem andern in der Erfüllung der Unterhaltspflicht gegenüber vorehelichen Kindern in angemessener Weise beizustehen.» Nach Lehre und Rechtsprechung geht dieser Beistandspflicht die Unterhaltspflicht des leiblichen Elternteils der Stiefkinder vor. Bleiben seine Unterhaltsbeiträge aber aus, muss der Stiefelternteil in die Lücke springen (vgl. Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, 2016, Bruno Roelli, zu Art. 278 ZGB, Ziff. 3). Das heisst aber nicht, dass das Kind einen eigenen Unterhaltsanspruch gegenüber dem Stiefelternteil besitzt. Vielmehr bedeutet dies, dass der unterhaltspflichtige Elternteil in Bezug auf seinen Teil an den Gesamthaushalt entlastet wird und der Stiefelternteil einen grösseren Beitrag leistet. Dies kann in einem Geldbetrag bestehen oder darin, dass dem unterhaltspflichtigen Elternteil ermöglicht wird, arbeiten zu gehen.

 

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bestehen bei der Berücksichtigung der ehelichen Beistandspflicht des Stiefelternteils drei Schranken (vgl. Urteil 5A_129/2019 vom 10.5.19 Erw. 4.3):

1. Die Leistungsfähigkeit beider biologischen Eltern geht jener des Stiefelternteils vor und muss ausgeschöpft sein z.B. Erwerbsmöglichkeiten.

2. Der Existenzbedarf des Stiefelternteils und seiner eigenen Kinder hat Vorrang.

3. Die Beistandspflicht ist betragsmässig auf jenen Unterhalt beschränkt, den das Kind ohne die Wiederverheiratung maximal vom Elternteil zugute hätte.

Zur 1. Schranke: Im erwähnten Urteil 5A_129/2019 legt das Bundesgericht in Erwägung 7 dar, wie vorgegangen werden muss. Es verlangt dafür eine anteilsmässige Bemessung des Bedarfs des leiblichen Elternteils unter Einbezug der Hälfte des Grundbedarfs des minderjährigen Stiefgeschwisters oder Halbgeschwisters. Diesem Bedarf ist dann sein eigenes Einkommen gegenüberzustellen. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass bei entsprechender Leistungsfähigkeit dem unterhaltspflichtigen Elternteil aufgrund Art. 277 Abs. 2 ZGB beim Volljährigenunterhalt das familienrechtliche Existenzminimum zugestanden wird (früher einen um 20% erhöhten Notbedarf), das höher ist als das betreibungsrechtliche Existenzminimum (Urteil 5A_311/2019 vom 11.11.20 E. 7.3). Kann der unterhaltspflichtige Elternteil auf Basis dieser Berechnung den Unterhalt leisten, hat er alleine für den Unterhalt seines vorehelichen Kindes aufzukommen. Ergibt die Berechnung aber, dass er nicht oder nur teilweise den Unterhalt seines Kindes bestreiten kann, dann dürfen die finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils berücksichtigt werden.

Bevor aber die finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils berücksichtigt werden, muss geklärt sein, dass auch der andere leibliche Elternteil nicht einspringen kann.

Allenfalls wäre diesem ein höherer Unterhaltsbeitrag oder ein besonderer Beitrag zuzumuten. Denn in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der leiblichen Eltern spielt meiner Meinung nach auch Art. 286 Abs. 3 ZGB eine Rolle: Bei ausserordentlichen Bedürfnissen des Kindes kann das Gericht die Eltern zur Leistung eines besonderen Beitrags verpflichten. Dieser Beitrag kommt zur regulären Unterhaltspflicht hinzu.

Zur 2. Schranke:

Das Bundesgericht führt im Urteil 5A_129/2019 Erw. 4.3.2. dazu Folgendes aus: «Rechnerisch hat die Beistandspflicht aber nicht zur Folge, dass das gesamte Einkommen des Ehegatten zu jenem des Unterhaltspflichtigen hinzuzurechnen bzw. ein gemeinsames familienrechtliches Existenzminimum zu erstellen ist.»

Dies bedeutet meiner Meinung nach, dass für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Stiefelternteils zunächst sein familienrechtliches Existenzminimum (bei knappen Verhältnissen womöglich nur betreibungsrechtliches Existenzminimum) zusammen mit seinen Kindern (auch vorehelichen) bemessen wird, um festzustellen, inwieweit er in der Lage ist, den anderen Elternteil zu unterstützen, damit dieser wiederum seinen Unterhaltspflichten nachkommen kann.

Zur 3. Schranke:

Eine umfassende Berücksichtigung der frei verfügbaren Mittel (Überschuss) ist sicher dann gerechtfertigt, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil aufgrund der Betreuung der Halbgeschwister seine Erwerbsfähigkeit nicht ausnützen kann. Damit das Stiefkind aber keine Vorteile aus der Wiederverheiratung zieht, würde die Beitragspflicht des Stiefelternteils auf die potenziellen (aktuell nicht ausgeschöpften) Erwerbsmöglichkeiten des unterhaltspflichtigen Elternteils begrenzt.

 

Zusammenfassung:

Nach zivilrechtlichen Grundsätzen ist eine indirekte Berücksichtigung nachrangig zur Leistungsfähigkeit der leiblichen Eltern zulässig (Erhöhung Unterhaltsbeitrag, besonderer Beitrag an ausserordentliche Kindesbedürfnisse). Dabei hat der Stiefelternteil mit dem nach Deckung seines Existenzbedarfs und jener seiner Kinder verbleibenden verfügbaren Teil die Unterhaltslücke aufzufüllen, wobei das Stiefkind nicht bessergestellt werden sollte, als dies ohne Wiederverheiratung möglich gewesen wäre.

 

Bezug zur Elternbeitragsbemessung im Kontext der Sozialhilfe

Diese aus der Rechtsprechung abgeleiteten Grundsätze entstanden bei der Beurteilung von Unterhaltsstreitigkeiten zwischen Eltern und Kind. Bei der Elternbeitragsbemessung der Sozialhilfe geht es aber letztlich um die Entlastung des Gemeinwesens. So nimmt die Sozialhilfe die Elternbeitragsberechnung auf Basis des erweiterten SKOS-Budgets vor und legt vom Zivilrecht abweichende Bemessungsansätze der Bemessung zugrunde, die nach den SKOS-RL D.4.2 Erl. d grösseren Spielraum für individuelle Lösungen geben würden, um eine aussergerichtliche Lösung zu erreichen. Handkehrum ist mit Blick auf den Einbezug der finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils im Kontext der Sozialhilfe nicht auszuschliessen, dass auch eine strengere Sichtweise zum Zuge kommen könnte, z.B. die dritte Schranke weniger ins Gewicht fällt (die 2. Schranke muss jedoch auch im erweiterten Budget beachtet werden). Auch wäre möglich, dass eine gemeinsame Berechnung des erweiterten Budgets vorgenommen würde, statt wie vom Bundesgericht vorgegeben, eine getrente. Dies liesse sich damit begründet, dass - bezogen auf Ihren Fall - die Ehegatten, das Geschwister und die Halbgeschwister eine Unterstützungseinheit (Art. 29 GES) bilden würde, würden sie zusammenleben und sich in einer finanziellen Notlage befinden. Inwieweit bei einer klageweisen Durchsetzung das Zivilgericht solche Aspekte gelten lassen würde, kann vorliegend nicht beurteilt werden. Soweit es keine Schlechterstellung gegenüber der Anwendung der zivilrechtlichen Grundsätze bedeuten würde, sollte dies unproblematisch sein. Im Kontext der Alimentenbevorschussung und Ausbildungsbeiträge hat das Bundesgericht den Einbezug der finanziellen Verhältnisse des Stiefelternteils geschützt, obschon dies nicht nach den Regeln des Zivilrechts geschah, die Rechtslage aber teilweise unterschiedlich sich präsentierte und es sich bei beiden Verfahren nicht um Unterhaltsstreitigkeiten, sondern um verwaltungsrechtliche Streitigkeiten handelte (vgl. Ausbildungsbeiträge: Urteil 2C_1181/2014 vom 19.1.16 Erw. 5 ; Alimentenbevorschussung: BGE 112 Ia 251 E. 3; auch in diese Richtung Urteil des Bundesgerichts 1P.254/2002 vom 6.11.02).

 

Ein Vergleich zur Verwandtenunterstützung

Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass gemäss Kap. 20.11 der Weisung bei der Verwandtenunterstützungspflicht nach Art. 326 ff. ZGB, der Verwandtenbeitrag halbiert werden kann, wenn u.a. der Verwandte mit einem Dritten verheiratet ist, der keine Verpflichtung gegenüber dem Begünstigten hat (z.B. Stiefvater). Dies kann jedoch nicht auf die Unterhaltspflicht übertragen werden.

 

Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen Ihre Frage beantwortet zu haben.

Freundliche Grüsse

Ruth Schnyder