Guten Tag
Ich führe die Beistandschaft von Herrn und Frau Z.. Ein verheiratetes Paar. Sie ist 55 Jahre und er 60. Jahre alt. Herr Z arbeitete als Lastwagenmonteur und Frau Z. in einem Schuhladen. Aufgrund massivem Alkoholkonsum haben beiden den Job verloren und sind seit Mai 2016 auf WSH angewiesen.
Im September 2019 erlitt Herr Z. einen Hirnschlag. Per September 2020 wurde ihm eine volle IV-Rente zugesprochen. Bei Frau Z. läuft eine Abklärung betr. IV-Rente.
Herr Z. ist bei schlechter Gesundheit. Bis vor kurzem hat er zu Hause gewohnt. Er wurde im November 2020 auf die Intensivstation und anschliessend in einem Pflegeheim zur Rehabilitation eingewiesen. Herr Z. möchte in 6. Monaten wieder zurück zu seiner Frau.
Herr Z. hat ein Freizügigkeitskonto bei der Raiffeisenbank (ca. CHF 200'000).
Durch die Zusprache der IV, hat mich die Gemeinde meinen Klienten gebeten, eine Abtretungserklärung für das Geld auf dem Freizügigkeitskonto zu unterzeichnen. Die Gemeinde möchte nun, dass Herr Z. sich aufgrund der IV das Geld auf dem Freizügigkeitskonto ausbezahlen lässt um die WSH Schulden von CHF 104'000 zurück zu zahlen. Bei diesen Schulden handelt es sich jedoch um Schulden beider Ehegatten. Die Gemeinde argumentiert, dass die Ehepaare solidarisch haften und daher durch die Auszahlung der gesammte Betrag beglichen werden soll. Seit dem Beitrag von Dienstag, 24.11 im Kassensturz bin ich mir nicht sicher ob dies rechtens ist und ob es im Interesse meines Klienten ist, das Geld zu beziehen um WSH zurück zu zahlen um anschliessend wieder auf EL angewiesen zu sein.
Meine Fragen lauten daher:
1. Darf oder respektive muss das Freizügigkeitskonto des Klienten aufgrund der IV-Rente ausbezahlt werden.
2. Ist es ok dass damit die WSH Schulden zurückbezahlt werden?
3. Muss aufgrund der Solidarhaftung der gesammte Betrag zurückbezahlt werden?
4. Kann die EL bei der Berechnung einen Vermögensverzicht geltend machen, wenn Gelder vom Freizügigkeitskonto nicht ausbezahlt werden?
Über eine Antwort würde ich mich freuen.
Freundliche Grüsse
Eva Murer
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Sehr geehrte Frau Murer, liebe Eva.
1. Da ihr Klient eine volle IV-Rente bezieht, ist einer der versicherten Vorsorgefälle, nämlich Invalidität, eingetreten. Bezieht der Versicherte wie hier eine volle Invalidenrente der Eidgenössischen Invalidenversicherung (und wird das Invaliditätsrisiko wie bei einer Freizügigkeitspolice nicht zusätzlich versichert) so kann das angesparte Kapital für das Alter (so genannte Altersleistung) auf Begehren der Versicherten vorzeitig ausbezahlt werden (Art. 16 Abs. 2 FZV; Art. 5 FZG). Es besteht in Ihrem Fall also eine Berechtigung zur vorzeitigen Barauszahlung des Altersguthabens, weil schon eine volle IV-Rente bezogen wird.
2. In diesen Fällen können die Ergänzungsleistungen die entsprechenden Vermögen anrechnen ab dem Zeitpunkt, wo sie bezogen werden kann. Das ist der Fall bei Rechtskraft der entsprechenden IV-Verfügung (vgl. Urteil des Bundesgerichts 9C_135/2020 vom 30. September 2020)
3. Mit Blick auf bestehende Schulden und Betreibungen, z.B. gegenüber der Sozialhilfe, ist Folgendes zu beachten: Ansprüche auf Vorsorge- und Freizügigkeitsleistungen gelten gemäss Art. 92 Abs. 1 Ziff. 10 SchKG VOR Eintritt der Fälligkeit als unpfändbar.
Mit der Invalidität u sind die Vorsorgeleistungen aber fällig, weil sie ohne Weiteres beziehbar sind vom Betroffenen. In diesem Fall sind die Leistungen gemäss Art. 93 Abs. 1 SchKG beschränkt pfändbar, unter der Voraussetzung, dass sie weiterhin dem Vorsorgezweck (Alter) dienen. Das bedeutet, dass sie nur pfändbar sind, soweit sie für den Schuldner und seine Familie nach Ermessen des Betreibungsamtes nicht unbedingt notwendig sind (vgl. BGE 120 III 74f.).
Der Pfändungsbeamte kann konkret eine aus dem auf dem Freizügigkeitskonto liegenden Kapital berechnete (hypothetische) Jahres- oder Monatsrente, abzüglich des nicht sonst gedeckten betreibungsrechtlichen Notbedarfs (BEX), verpfänden. Die dabei zur Berechnung verwendete Jahresrente entspricht der jährlichen oder monatlichen Rente, welche der Betroffene mit dem Kapital bei einer Lebensversicherung kaufen könnte. Wie dies erfolgt und berechnet wird, fragen Sie am besten beim zuständigen Betreibungsamt nach, weil es dabei in der Praxis Unterschiede gibt. Häufig kommen die Tabellen zur Anwendung, welche auch für die Bundessteuern relevant sind. Vgl. Tabelle «Leibrenten ab 2005» unter https://www.estv.admin.ch/estv/de/home/direkte-bundessteuer/direkte-bundessteuer/fachinformationen/tarife.html. In ihrem Fall dürfte das beim Alter des Betroffenen ein Betrag unter CHF 3000 pro Jahr sein. Der dann mit der IV-Rente und anderen Einkünfte gegen den Notbedarf aufgerechnet wird zur Bestimmung des pfändbaren Einkommens.
Unbeschränkt pfändbar wird das Kapital hingegen, wenn sie mit dem übrigen Vermögen vermischt werden oder wenn der Berechtigte zu erkennen ergeben hat, dass er die Mittel zweckwidrig nicht mehr für seinen Unterhalt zu verwenden gedenkt. Deswegen ist dies zu vermeiden.
4. Im vorliegenden Fallist zu raten, das Kapital vorerst auf dem Freizügigkeitskonto zu belassen und damit zum Ausdruck zu bringen, dass Sie weiterhin dem Vorsorgeschutz Alter dienen sollen. Es darf auch im Falle einer Abhebung auf KEINEN FALL vermischt werden mit anderen Vermögen oder einfach überwiesen werden auf ein Beistandskonto.
5. Müsste ein Abheben vom Freizügigkeitskonto trotzdem erfolgen, so können die Mittel, soll der Vorsorgeschutz erhalten bleiben, auf ein eigenes Bank- oder Wertschriftenkonto angelegt werden, welches durch Bezugsbeschränkungen den Zweck der Deckung des laufenden Unterhalts und der Vorsorge zum Ausdruck bringt. So könnte etwa ein Festgeldkonto vorgesehen werde, welches für die eine Beschränkung der Bezugsmöglichkeiten im Umfang von pfändbaren Jahresrenten vorsieht. Insoweit besteht dann nur eine beschränkte Pfändbarkeit einer hypothetischen Jahresrente, unter Abzug des (auch über die IV-Rente etc. nicht gedeckten) betreibungsrechtlichen Notbedarfs (BEX), möglich. Der Zinsertrag des Kontos kann für den Unterhalt Verwendung finden und auch gepfändet werden (BGE 115 III 48).
Der Betroffene kann also soweit das Kapital besteht auf jeden Fall auf dem Niveau des betreibungsrechtlichen Notbedarfs leben und auch die Mittel entsprechende verwenden.
6. Eine solche Abhebung des Freizügigkeitskontos könnte namentlich wegen einer entsprechenden Auflage der Sozialhilfe im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips zum Thema werden (siehe etwa SKoS-RL E.2.5; Stand 1.1.2020). In so einem Fall wäre immerhin dann ein Rechtsmittel zu prüfen, wenn dem Kapital eine unmittelbare Pfändbarkeit für bestehende Schulden droht. Das würde nämlich die Bedürftigkeit des Betroffenen gar nicht minderm.
7. Vorliegend geht es um Rückerstattungsansprüche der Sozialhilfe für in der Vergangenheit bezogene Sozialhilfe. Hier ist die Rechtslage nicht eindeutig. Aber es bestehen gute Chancen, dass eine solche Forderung auch im Kanton Luzern, da und soweit es um aus Erwerbseinkommen geäufnetes Kapital geht, das weiterhin dem Vorsorgezweck dient (Unterhalt laufende Bedürfnisse), in einem Gerichtsverfahren kein Erfolg hätte (vgl. dazu https://skos.ch/fileadmin/user_upload/skos_main/public/pdf/zeso/praxisbeispiele/2009_Zeso01_Praxisbeispiel_Freizuegigkeitskonto.pdf; E.3.1 SKos-RL, Stand 1.1.2020). Auch mit Blick auf solche mögliche Forderungen gegen Ihren Klienten lohnt es sich, falls überhaupt ein Abheben vom Freizügigkeitskonto erfolgen soll, eine Überweisung auf ein Konto mit beschränkten Bezugsmöglichkeiten zu prüfen und bei Banken entsprechende Möglichkeiten auszuloten.
7. Vor diesem Hintergrund rate ich davon ab, der Sozialhilfe vorab irgendwelche Vollmachten in dieser Sache auszustellen. Der Sozialdienst soll seine Forderung, wenn schon, zuerst per Verfügung geltend machen und müsste dann allfällige Vollstreckungsmassnahmen gerichtlich geltend machen.
Ich hoffe, das dient.
Prof. Peter Mösch Payot