Ausgangslage: Person, ledig, 40 jährig, Aufenthaltsbewilligung B, benötigte in der Vergangenheit immer wieder für einen kurzen Zeitraum Sozialhilfe. Die Person hat hieraus ableitend Kenntnisse von den geltenden Mietzinsnormen. Bewohnt aktuell eine Wohnung, welche massiv über den geltenden Mietzinsnormen des Unterstützungswohnorts liegt (WOK CHF 1660.- / Mietzinsnorm CHF 700.-). Die Bedürftigkeit der Person wurde geprüft und ist erwiesen. Sie hat Anspruch auf den gesetzlichen GB sowie die anerkannten WOK (CHF 997.- + CHF 700.-).
Aus Sicht der Sozialhilfe wird der gesetzliche Anspruch auf einen Grundbedarf an die Person ausbezahlt sowie die anerkannten Kosten laut geltenden Mietzinsnormen am Unterstützungswohnort. Als Gesamtsumme betrachtet, wird ein Betrag von CHF 1697.- ausbezahlt.
Zur (generellen) Fragestellung nach einer korrekten Handhabung: am erwähnten Beispiel zeigt es sich, dass der Person nach Erhalt des SH-Betrages von CHF 1697.- abzüglich der WOK von CHF 1660.- ein Restbetrag von CHF 37.- / Monat als Betrag zum Leben übrig bleibt.
- Wird mit diesem Vorgehen die Auslegung von Art. 12 BV korrekt umgesetzt?
- Kann die Sozialhilfe, wie im oben geschilderten Fall, einer Person bei einem wiederholten Sozialhilfeanspruch direkt den Anspruch auf die vertraglichen WOK aberkennen (CHF 1660.-), da die Praxis davon ausgeht, dass Personen, die wiederholt Sozialhilfe beanspruchen, Kenntnis davon haben, dass sie sich an geltende Mietzinsrichtlinien halten müssen und falls diese überschritten werden, die Mehrkosten über den GB begleichen müssen (CHF 960.-).
- Muss einer Person, die sich in einer solchen Situation besteht, nicht eine Frist eingeräumt werden, innerhalb der sie sich nach einer günstigeren Wohnung umsehen muss und erst nach Ablauf dieser Frist dann die Kürzung der anerkannten WOK auferlegt werden?
- In wieweit ist der Anspruch auf Nothilfe laut Art. 12 BV (CHF 10.- / Tag) unantastbar? --> Am Beispiel: der Person bleibt nur noch ein Restbetrag von CHF 37.- zum leben übrig. Mit diesem Bescheidenen Betrag kann keine Existenssicherung gewährleistet werden.
Ich bedanke mich für die Beantwortung meiner Fragestellung(en). Freundlicher Gruss
Uli Truffer
Frage beantwortet am
Ruth Schnyder
Expert*in Sozialhilferecht
Lieber Herr Truffer
Ich hoffe, es geht Ihnen gut und Sie sind gesund. Gerne beantworte ich Ihre Anfrage. Darin stecken zwei Themen:
1. Kann bei vergangenem Bezug von wirtschaftlicher Hilfe direkt der Mietgrenzwert zur Anwendung gelangen, wenn die betreffend Person erneut bedürftig wird?
2. Wird das verfassungsmässige Recht auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) verletzt, wenn durch die Finanzierung der Wohnkosten bis zum Grenzwert nur noch ein stark reduzierter Grundbedarf übrig bleibt, da der Grenzwert übersteigende Wohnkostenanteil aus dem Grundbedarf bezahlt werden muss?
Die Weisung vom 1. Juli 2020 des Departementes zur Berechnung des Sozialhilfebudgets (in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2, 8 Abs. 1 und 14 Abs. 3 ARGES VS sowie Art. 10 Abs. 8 GES VS) konkretisieren die SKOS-RL in Bezug auf das erste Thema der Anwendung des Mietgrenzwertes bei Neufällen. Im Kapitel 3.2 werden die SKOS-RL zum Vorgehen bei überhöhtem Mietzins dargelegt und folgende Präzisierungen dazu festgehalten:
- [1] Es wird lediglich der zugelassene Betrag gemäss den Ansätzen der Gemeinde ins Budget integriert, wenn der Mieter im Moment der Unterzeichnung des Mietvertrages wusste, dass seine finanzielle Situation es ihm nicht ermöglicht, den Mietzins zu bezahlen oder wenn er Sozialhilfe bezog und sich nicht vergewisserte, dass der Mietzins von der Gemeinde auch zugelassen wird (siehe Rubrik « Umzug »). Dies ist auch der Fall, wenn er sich vor dem Gesuch um Sozialhilfe in finanziellen Schwierigkeiten befunden hat und er keine Vorkehrungen getroffen hat, um eine Wohnung zu finden, die seiner Situation entspricht.
- [2] Der gesamte Mietzins wird angerechnet, wenn der Hilfsempfänger eine seiner finanziellen Situation entsprechende Wohnung übernommen hat und er kurzfristig nicht vorsehen konnte, dass seine Situation ihn an der Übernahme des Mietzinses hindern könnte.
Nicht erwähnt wird die Konstellation, die vorliegend in Frage steht. Aus meiner Sicht wäre es jedenfalls unverhältnismässig, wenn eine Person, die wirtschaftliche Hilfe bezogen hat, sich nach Ende der Unterstützung in Bezug auf ihre Lebensführung stets ans soziale Existenzminimum halten muss, damit ihr keine überhöhte Lebensführung bei einem späteren Bezug vorgehalten werden kann. Vielmehr ist es so, dass die Beendigung einer Unterstützung durch die Sozialhilfe dazu führt, dass die Pflichten nicht mehr nachwirken können. Allenfalls kann eine Ausnahme gemacht werden, wenn im Zeitpunkt der Ablösung bereits absehbar ist, dass jemand in wenigen Monaten (2 – 3 Monaten) wieder bedürftig ist (Vgl. dazu Guido Wizent, Sozialhilferecht, alphaius, Dike 2020, S. 189 Fn. 489 mit Rechtsprechungshinweisen).
In der zitierten Weisung des Departementes wird denn auch nicht die Vorgabe gemacht, dass ein früherer Sozialhilfebezug stets dazu führt, dass von Beginn weg der Grenzwert ausgerichtet wird. Die Weisung lässt jedoch eine beschränkte retrospektive Sicht zu, nämlich wenn trotz finanzieller Schwierigkeiten nichts unternommen wurde, um eine günstigere Wohnung zu finden. In diesem Fall sei der zugelassene Betrag gemäss den Ansätzen von der Gemeinde sofort anzuwenden (siehe vorstehend erstes Alinea). Hingegen ergibt sich sinngemäss aus dem oben zitierten zweiten Alinea, dass keine sofortige Anwendung stattfinden darf, wenn jemand nicht mit der Bedürftigkeit rechnen musste. Kommt vorliegend letzterer Fall zum Tragen, wäre eine sofortige Ausrichtung nur des Wohnkostengrenzwertes nicht zulässig. Ist der erste Fall vorliegend erfüllt, wäre nach der Weisung die sofortige Anwendung zulässig.
Aus meiner Sicht ist jedoch fraglich, ob diese Vorschrift (erstes Alinea [1]/Satz 2) gesetzeskonform ist. Es handelt sich um den Vorwurf der selbstverschuldeten Bedürftigkeit im Umfang der überhöhten Miete. Das GES VS sieht in Art. 19a keinen solchen Tatbestand vor. Nach Art. 19a Abs. GES VS können finanzielle Leistungen gekürzt werden, wenn der Sozialhilfeempfänger nicht voll und ganz an der Wiedererlangung seiner sozialen und finanziellen Selbständigkeit mitwirkt. Meiner Meinung nach kann diese Bestimmung erst ab Unterstützungsbeginn Wirkung entfallen, da das Wiederlangen der Selbständigkeit und die Mitwirkungspflicht erst dann beginnt. D.h. vergangenes Verhalten muss im Sinne des Finalprinzips unbeachtlich bleiben (vgl. Bedarfsdeckungsprinzip Kap. A.4 SKOS-RL). Eine Ausnahme bildet das Rechtsmissbrauchsverbot (Art. 19b Abs. 3 GES VS) und nach Rechtsprechung auch ein treuwidriges Verhalten (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_216/2018 vom 3.10.2018). Der Fall gemäss erstes Alinea [1] /Satz 2 könnte also als treuwidriges Verhalten eingestuft werden. In diesem Sinne wäre das Verhalten des betreffenden Klienten zu würdigen. Hat er sich etwa um eine neue Wohnung bemüht oder konnte er aus redlichen Gründen keine Wohnung suchen oder hatte er gute Gründe, davon auszugehen, dass er die Bedürftigkeit abwenden kann, wäre ein treuwidriges Verhalten zu verneinen.
Nun zur Frage, ob bei zulässiger Anwendung des Mietgrenzwertes im vorliegenden Fall, Art. 12 BV verletzt ist, da ihm mit der zugesprochenen materiellen Hilfe nach Bezahlung der effektiven Miete nur noch wenig zum Leben bleibt. Art. 12 BV deckt nur ab, was für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich ist, darunter fallen u.a. Obdach, Ernährung, Hygieneartikel. Beim Bedarf des Obdachs gewährleistet Art. 12 BV aber kaum eine Wohnung in der Höhe Fr. 1'660. Das Bundesgericht hält in BGE 142 I 1 7.2.1 zu Art. 12 BV fest:
«Das Grundrecht gemäss Art. 12 BV garantiert aber nicht ein Mindesteinkommen; verfassungsrechtlich geboten ist nur, was für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar ist und vor einer unwürdigen Bettelexistenz zu bewahren vermag. Der Anspruch umfasst einzig die in einer Notlage im Sinne einer Überbrückungshilfe unerlässlichen Mittel (in Form von Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinischer Grundversorgung), um überleben zu können (BGE 139 I 272 E. 3.2 S. 276; BGE 138 V 310 E. 2.1 S. 313; BGE 135 I 119 E. 5.3 S. 123; BGE 131 I 166 E. 3.1 S. 172; BGE 130 I 71 E. 4.1 S. 75).
Art. 12 BV umfasst eine auf die konkreten Umstände zugeschnittene, minimale individuelle Nothilfe. Sie beschränkt sich auf das absolut Notwendige und soll die vorhandene Notlage beheben. Insofern unterscheidet sich der verfassungsmässige Anspruch auf Hilfe in Notlagen vom kantonalen Anspruch auf Sozialhilfe, die umfassender ist (BGE 138 V 310 E. 2.1 S. 313).»
Daraus folgt, dass ein höherer Lebensstandard durch die Nothilfe nicht aufgefangen wird. Insoweit erscheint mir die Berufung auf Nothilfe im vorliegenden Fall nicht angemessen, solange der Klient die Priorität bei der Finanzierung auf die zu teure Wohnung legt.
Ich hoffe, Ihnen mit diesen Ausführungen Ihre Fragen beantwortet zu haben und wünsche Ihnen eine schöne Sommerzeit.
Herzliche Grüsse
Ruth Schnyder