Bei den Patientinnen und Patienten, welche in unserer Klinik in stationärer Behandlung sind, ist regelmässig vorgesehen, dass sie tageweise Arbeitsversuche an ihrem angestammten Arbeitsplatz machen. Von den involvierten Krankentaggeldversicherungen und z.T. von den Arbeitgebenden erfolgen unterschiedliche Rückmeldungen, ob ein Arbeitsversuch möglich ist oder nicht, immer mit Verweis auf die «Haftungsfrage».
Unsere Fragen:
Worin liegt genau das Haftungsrisiko? Geht es um das Risiko, dass die medizinischen (u. U. weitere) Leistungen bei einem Unfall am Arbeitsplatz/Arbeitsweg (während einer 100% Krankschreibung) nicht gedeckt wären? Welche konkreten Risiken gehen AG und AN konkret ein? Falls ja, wie kann man diese Lücke schliessen resp. was müssten Arbeitgebende und Arbeitnehmende beachten bei einem Arbeitsversuch?
- Stellen sich noch weitere «Haftungsrisiken» bei einem Arbeitsversuch während einer Krankschreibung?
- Gibt eine offizielle Deklaration als «Arbeitsversuch» oder «Arbeitstherapie», durch die das Haftungsproblem gelöst würde? Wenn ja, wie lange oder in welchem Umfang dürfte ein offizieller Arbeitsversuch stattfinden?
Vielen Dank!
Frage beantwortet am
Peter Mösch Payot
Expert*in Sozialversicherungsrecht
Guten Tag
Für eine genaue Beantwortung der Frage, welche Haftungsrisiken die Arbeitgeber meinen, bzw. ob dies auch gerechtfertigt ist, müssten die genaueren Inhalte und der Charakter des Arbeitsversuches geprüft werden. Ebenso, welche Betriebsversicherungen die involvierten Betriebe aufweisen.
Als Rahmenbedingung ist zu beachten, dass für Arbeitsversuche im Sinne des IVG (Art. 18a IVG) eine Unfallversicherung im Sinne des UVG abzuschliessen ist, wie für Arbeitnehmende. Damit wird das Risiko der Folgen eines Unfalls für den Betroffenen im Betrieb abgedeckt. (vgl. Bundesgerichtsentscheid 8C_324/2018 vom 4.12.2018).
Ich gehe aber davon aus, dass es bei den von Ihnen beschriebenen «Arbeitsversuchen» um solche geht, welche nicht von der IV angeordnet sind.
Soweit die betroffenen Personen während dieser Arbeitseinsätze/-versuche zu 100% arbeitsunfähig sind, so können sich tatsächlich für Betriebe, die solche Arbeitsversuche ermöglichen, aber auch für Institutionen, die diese vermitteln, Haftpflichtprobleme stellen:
Diese Haftpflichtfragen (namentlich also Schadenersatz oder Genugtuung) können sich vor allem stellen in Rechtsbeziehungen des Einsatzbetriebes zum Patienten. Eventuell aber auch für die vermittelnde Institution gegenüber dem Patienten oder dem Einsatzbetrieb. Schliesslich aber auch für den Einsatzbetrieb bezüglich Schäden, die gegenüber KundInnen, anderen Mitarbeitenden und Dritten versursacht werden.
Es ist dabei zu beachten, dass eine medizinisch ausgewiesene Arbeitsunfähigkeit sich häufig auf die frühere Tätigkeit bezieht. Sie muss aber noch nicht zwingend auch einen Arbeitseinsatz mit anderen und häufig tieferen Anforderungen unmöglich machen.
Entscheidend ist, ob vor Beginn der Einsätze genügend abgeklärt wird, welche Aufgaben und Funktionen die betroffene Person wie und unter welchen Voraussetzungen - trotz 100% Arbeitsunfähigkeit – ausüben kann. Dafür ist es unvermeidlich, dass solche Fragen mit Blick auf die konkreten Aufgaben in den geplanten Einsätzen mit einem detaillierten Arztzeugnis genau abgeklärt werden.
Nur, wenn für den konkreten Arbeitseinsatz eine solche «Arbeitseinsatzfähigkeit» ausgewiesen ist, kann ohne erhebliches Haftungsrisiko für den Betriebe diese dann auch gestartet werden.
Zur Haftungsrisikobeschränkung sind im Weiteren die Kontroll- und Sicherheitsmassnahmen zu nennen, die risikominimierend sind.
Diese Aspekte sind dann aus Beweisgründen auch genau zu protokollieren.
Diese Verpflichtungen ergeben sich für den betroffenen Mitarbeitenden/Patiente, die vermittelnde Stele und den Einsatzbetrieb für Arbeitsversuche aus Art. 398 OR i.V.m. mit Art. 321e Abs. 1 und 2 OR, bzw. für den Einsatzbetrieb ebenso aus Art. 328 OR bzw. für alle Beteiligten aus Art. 28 ZGB i.V.m. Art. 97 OR.
Ob und inwieweit dann im Einzelfall ein Arbeitseinsatz/-versuch trotz einem Arztzeugnis, das zu 100% Arbeitsunfähigkeit ausweist, vertretbar ist, hängt dann von den genannten Abklärungen ab. Also erstens von den erwarteten Funktionen und Aufgaben beim Einsatz, zweitens von den Sicherheitsmassnahmen und drittens von den medizinisch ausgewiesenen Möglichkeiten und Grenzen der Tätigkeit des Patienten. Und von privaten Versicherungen, insb. private Unfall- und Betriebsversicherungen, in denen je nach dem Haftungsrisiken ein- oder ausgeschlossen sein können. Auf jeden Fall lohnt sich eine genaue Abklärung im Einzelfall.
Ich hoffe, das dient Ihnen.
Prof. Peter Mösch Payot